Abstand – eine journalistische Haltung

Welt auf Abstand

Selbst zum Staunen zuviel: Dem Virenweltkrieg wird nun wirklich alles untergeordnet. Es dürfte viele Opfer geben und manches geopfert werden. Unabhängiger Journalismus auch? Nicht, wenn er Haltung bewahrt.

Den letzten Urlaub alter Zeitrechung habe ich im Wattenmeer verbracht. Sowas merkt man sich in diesen merkwürdigen Zeiten. Eine Weite, die einen von selbst auf Abstand bringt. Wenn Dir Menschen hier begegnen, dann oft mit Haltung. Das Team im Hotel etwa verwöhnt seine Gäste noch bis zur letzten Minute vor der Zwangsabreise freundlich und zuversichtlich. Dann geht es für sie selbst in die Kurzabeit und damit ab in die Existenzsorge.

Für „Haltung“ gibt es, gerade im Journalismus, (zu) viele Definitionen. Am Ende läuft es für mich auf die Formel von der Situationskompetenz hinaus: wissen und können, was gerade zu tun ist. Da stehen die Medien aktuell vor einer gewaltigen Herausforderung, so undurchschaubar und dräuend wie der nordfriesische Himmel.

Immerhin bietet das Hauptgebot im Ringen mit dem Coronavirus  durchaus Orientierung: Abstand halten. Das könnte auch heißen, zur Angst, Trauer und Hysterie in der Bevölkerung. Und zum Rigorismus und Pathos der Regierenden. Aber das ist leicht gefordert unter Echtzeitdruck und infodemisichen Verhältnissen. Zudem hat journalistische Distanz keinen leichten Stand in der Berufsrollen-Debatte. Da geht es oft eher um Richtung, Engagement und Betroffenheit.

Die mediale Metatendenz der Polarisierung wirkt sich derzeit besonders problematisch aus. Nämlich dann, wenn versucht wird, dieses soziale Großexperiment des Social Distancing differenziert zu diskutieren. Einem kleinen Twitterer am Rande wie mir passiert nichts, wenn er sich über die Abwägung von Gesundheit und Freiheit Sorgen macht. Jakob Augstein dagegen erntete mit seiner Frage einigen, teilweise übelriechenden Gegenwind.

Dabei steht doch fest: Man wird zumindst wachsam sein müssen. Denn „Staatsräson als erste Medienpflicht“, wie Andrej Reisin kommentiert, wäre die Aufgabe der Aufgabe von Journalismus. Schon schwören die Mächtigen, von Emmanuel Macron bis Donald Trump, uns auf die Kriegsmetapher ein. Für den Weltvirenkrieg werden Ausnahmezustände etabliert. Wer weiß schon wie lang sie dauern und wer überprüft, was sie wem tatsächlich bringen?

Diese Fragen muss das Medienmetier nachhalten, das ist ihr Job. Kein Grund, den Rubikon komplett in die andere Richtung zu überschreiten und von dort auf die angebliche „Fassadendemokratie“ einzuhämmern. Aber die provokante Frage nach einem möglichen „medizinischen Kriegsrecht“ müssen wir schon aushalten. Sie sollte nicht nur Alternativmedien vorbehalten sein.

Sascha Lobo schlägt da eine tragfähige Brücke. Er warnt vor „Vernunftpanikern“, die Ansagen von Behörden oder Experten zum Maß aller Dinge machen und drakkonisch durchsetzen wollen. Bis hin zu Informationsregeln, die alles Abweichende, Heikle und Irritierende zu Fake News abqualifizieren.

Es hilft am Ende wenig, wir müssen jetzt einen ziemlich schmalen Korridor erkennen und beschreiten, um den gesellschaftlichen Selbstmord aus Angst vor dem coronalen Tod zu vermeiden. Das ist ein publizistischer Dauerauftrag.

Die us-amerikanischen Wissenschaftler Daron Acemoglu und James A. Robinson haben diesen Korridor jüngst anhand vieler historischer Beispiele beschrieben. Titel und Untertitel ihres Buches bringen es gut auf den Punkt: „Gleichgewicht der Macht – Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft“. Der Staat als sichernder Garant der Ordnung auf der einen und die (Zivil-) Gesellschaft als korrigierendes Gegengewicht der Freiheit – erst im Zusammenwirken beider eröffnet sich ein gangbarer Weg zwischen Totalitarismus und Chaos.

In den kommenden Tagen, Wochen und Monaten kommt es medial nicht nur auf gesundheitliche Achtsamkeit an. Sondern auch auf demokratische Wachsamkeit. Auf Abstand.

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