Deutungsmachtergreifung

Stichwort „Köthen“ (Montage/Screenshot You Tube)

Wenn ich gerade fünf Jahre Medien-Meta-Beobachtung in diesem Blog bilanzieren sollte, dann ziemlich genau so: Dem Sound der Zeit nach, stehen wir kurz vor der Deutungsmachtergreifung.

Mir kommt es schon vor, als würde ich irgendwie immer das gleiche schreiben. Murmeltext-Tag. Aber da wäre ich in ganz guter Gesellschaft. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen wiederholt sich ebenfalls – allerdings höchst virtuos – mit seiner zentralen Zeitdiagnose: „Pauschalismus, die demütigende Ad-hoc-Generalisierung, das kränkende Sofort-Bescheidwissen“.

Auf der bescheideneren Ebene dieses Blogs fing die Klage über die große gesellschaftliche Gereiztheit im Grunde im Spätsommer 2013 an. Unter dem Titel „Grau ist geil – Lob der Differenzierung“ habe ich als Leitmotiv formuliert: Krise als Chance zur Analyse nutzen, nicht als Kriegsgrund. Wie lassen sich Störungen im System bearbeiten, ohne gleich das System zu zerstören?

Aktuell sieht die Antwort in Deutschland und Europa so aus: Gar nicht.

Erkenntnisse: Lagerbildung als Debattenziel

Eigentlich unglaublich! Hatte ich doch erst neulich vor der Dichotom-Energie gewarnt. Nun gut, der Impact dieses Rand-Blogs ist begrenzt und der Vorrat an Spaltmaterial scheint unerschöpflich. Vervielfältigung und Beschleunigung machen die Digitalen Moderne zum Schnellen Brüter. (Wem das alles übrigens zu „dystopisch“ wird: positive Energie zum Digitalen gibt es hier.)

Dabei hat der Soziologe Zygmunt Bauman die große gesellschaftliche Aufgabe vor Jahren aufgezeigt: Ambivalenz aushalten. Das Andere und den Anderen immer wieder anerkennen, wohl wissend, dass sich alltägliches Befremden über die Unstimmigkeiten des Zusammenlebens nicht einfach aus der Welt schaffen lässt. Aber dass andererseits Feindbilder eben doch trügerisch und zerstörerisch sind.

Wie erwähnt, beginne ich mich also zu wiederholen und das bei einem Thema, das ja nicht gerade selten öffentlich verhandelt wird. Zudem sind das ja alles relativ abstrakte, wenn auch gut gemeinte Hinweise. Sie wirken im Alltag allerdings so realistisch wie Radikalpazifismus im September 1939. Statt die widersprüchliche Wirklichkeit gemeinsam zu bearbeiten, wollen viele die heiklen Ambivalenzen lieber aus der Welt schaffen. Und zwar, indem sie keinen Widerspruch mehr zulassen.

Ich habe den heutigen Zustand gesellschaftlicher Öffentlichkeit oben als „kurz vor der Deutungsmachtergreifung“ beschrieben. Warum genau? Vielleicht nur, weil ich hysterisch bin. Als Baby Boomer mit der posttraumatischen Belastung der Kriegseltern aufgewachsen und als Wohlstandswessi an gepflegte politische Langeweile gewöhnt, reagiere ich eventuell übersensibel. Möglicherweise halte ich schärferen Wind für Sturm und Storm für Shit.

Andererseits – diese deutlichen Anklänge ans Völkische, Antiliberale und Aggressive schüchtern einen schon ein. (Ich vermute sogar, dass das genau der Grund für ihren Einsatz ist.) Bislang war es weitgehend Konsens, einigermaßen zivilisiert um Deutungshoheit zu ringen. Was vor allem bedeutete, andere(s) zwar zu kritisieren, aber weiter existieren zu lassen. Jetzt heißt es oft: „Du oder ich!“

Mit „Deutungsmachtergreifung“ meine ich (noch) nicht die Übernahme der Staatsgewalt in Deutschland durch neue alte Kameraden. Deutungsmachtergreifung beschreibt, wie sich nahezu ungebremst ein Ausschließlichkeitsdenken in Kategorisierungen durchsetzt, das bei Debatten nur noch auf ein  Reizwort wartet, mit dem das Gegenüber zu Freund oder Feind erklärt werden kann.

Keine Argumentation mehr, nur noch Formation. „Auslöschung der Person durch Schnell-schnell-Interpretation“ nennt das der Medien-Professor Pörksen in der Zeit. Er empfiehlt einen „radikalen Werturteilsverzicht“ als Gesprächstherapie. Befremdliches aushalten, zumindest bevor man sich kennengelernt hat.

Erfahrungen: Die Einschläge kommen dichter

Erst recht schwer hat es in diesen Wochen die Ambivalenz-Achtsamkeit.Das Bild oben zum Beispiel zeigt das Resultat eines simplen Experiments: Ich habe das Stichwort „Köthen“ bei der You Tube-Suche eingegeben. Falls Sie diesen Text hier erst in zehn Jahren lesen sollten: Die Stadt wurde kurzzeitig ein großes nationales Thema, nachdem dort ein Mann gestorben war. Zwei Menschen mit Migrationshintergrund wurden tatverdächtig.

Und was liefert die Suche auf You Tube am 10.09.2018? Unter den Top-10 sind Beiträge von „RT Deutsch“ und „Sergeant Meinungsfreiheit 2“. „Klare Worte zu Köthen“ etwa – ein Smartphone-Video, das offensichtlich eine kleine Kundgebung in der Stadt zeigt. Die Wut auf eine „antideutsche, asoziale Schweinepresse“ ist der ganz große Hit des glatzköpfigen Redners. Klatschen. Johlen. „L-Presse“. Schon klar.

Die meisten Treffer der You Tube-Suche empfehlen ähnlichen „Inhalt“. Einzig ein BILD-Beitrag und einer der Welt ragen als Highlights der Seriosität heraus. Ich weiß wirklich nicht, was ich dem Algorithmus getan habe. Es scheint auch nichts Persönliches zu sein. Denn es geht anderen ebenso. Vieles spricht dafür, Hass der neue You Tube-Star ist. Ein Top-Influencer.

Hass scheint zudem ein effektiver Kommentarkultur-Killer zu sein. Von 1.500 Meinungsäußerungen zum Fall Köthen auf seiner Website konnte der MDR 43 Prozent nicht freigeben, wegen Beleidigungen, Drohungen oder Volksverhetzung. Diese Kommentare, auf welcher publizistischen und sozialmedialen Ebene auch immer, sind nicht repräsentativ. Aber effektiv.

Ebenfalls nicht repräsentativ, aber für mich persönlich deutlich spürbar, ist die Zunahme an Medienmeta-Diskussionen im privaten Kontext. Sobald ich meinen Beruf, sagen wir mal, beim Frisör, Bäcker oder Physiotherapeuten offenbare, kommen Fragen wie diese: „Mal ehrlich, haben wir wirklich freie Medien? Also ich habe mal den Tagesschaubeitrag gestern mit dem verglichen, was ich im Internet dazu gelesen habe. Und ich finde, da fehlte eine ganze Menge im Fernsehen.“

Die gute Nachricht: Nutzer/innen emanzipieren sich und interessieren sich nun stärker für Medienkompetenz. Wer als Medienprofi seine Angefasstheit darüber herunterschluckt, erfährt viel Interessantes in solchen Diskussionen. Etwas schlechter ist die andere News: Das Vertrauensfundament muss professioneller Journalismus wohl erst wieder herstellen. Das bisherige Informieren, Orientieren, Filtern und Framen  durch etablierte Medien stößt auf wachsende Skepsis.

Ein richtiger persönlicher Schockeffekt ist schließlich der „Fall“ (Denken Sie sich hier gerne ein Wortspiel.) des Reporters (Radio Bremen, Stern TV) Hinrich Lührssen. Vom schrägen Stückemacher im Fernsehen zum Vorstand der AfD in Bremen. Ich kannte ihn (ist länger her, zugegeben) als intelligenten, kompetenten und originellen Kollegen. Deshalb bin ich so verblüfft wie offensichtlich auch Markus Lanz, der seinen langjährigen journalistischen Mit-Streiter ins Studio einlud.

Was dort folgte, war eine Auseinandersetzung zwischen den Standpunkten „Wie konntest Du nur?“ und „Ich weiß gar nicht, was Ihr habt!“ Zwei Seiten informieren sich über ihre wechselseitige Verständnislosigkeit. Dieses recht wortreiche Schweigen entwickelt sich ohnehin zu einem Kennzeichen moderner medialer Begegnung.

Konsequenzen: Entgiften durch Denken

Über all das kann man natürlich schnell urteilen. Verstehen dauert länger, jedenfalls bei mir.

Verschärftes Nachdenken ist somit ein Grund, in diesem Blog künftig weniger zu posten. Ein anderer liegt darin, dass ich eine endlich meinen epochalen Beitrag zur Journalismus-Forschung im Medieneliten-Milieu leisten muss (Irgendwann auch hier, bleiben Sie dran!).

Auf jeden Fall möchte ich meiner Leserschaft keine unnötigen Wiederholungen zumuten. Wir erleben zurzeit rhetorisch gewandte bis platt wortgewalttätige Gefechte an der Grenze des Sagbaren. Und am Rand der Regierbarkeit. Nach fünf Jahren ziemlich intensiver Beobachtung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit erscheint mir  Medienland zwar nicht abgebrannt, aber entflammt. Paradoxerweise könnte der dauernde Hinweis darauf, dass dem so ist, die Entwicklung weiter verstärken, Pure Aufmerksamkeitsökonomie.

Festzuhalten bleibt: Die Deutungsmachtergreifung ist zumindest alternativer Fakt: Alles Relevante wird mittlerweile „Systemfrage“.  Gesellschaftliche Debatten verlieren ihre Themen aus den Augen, denn immer muss es gleich ums ganz Große und große Ganze gehe. Der Zeitgeist trägt Kampfstiefel.

Also: Abregen durch Denken.

 

 

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