Generationsgedanke: Ritual Tagesschau

(Quelle: Library of Congress)

(Quelle: Library of Congress)

Vor allem im Alter brauchen wir sie wohl: Rituale. Auch solche der generationsbedingten Kritik. Beispiel Tagesschau, gern auch „die gute alte Tagesschau“ genannt. Geschaffen zur offiziellen Bekanntgabe des Weltgeschehens – steifes Gehabe, löchriger Bilderteppich und gestelzte Aufsager inklusive. Der preisgekrönte TV-Journalist Christoph Maria Fröhder erschüttert derzeit das Vertrauen in die ARD-Institution. Mal wieder.


War früher also alles besser? Als verdienter, in die 70er Jahre gekommener Journalist hat sich Christoph Maria Fröhder sicher ein Recht auf diese Frage erworben. Vielleicht auch auf die erwartungsgemäße Antwort: Die goldenen Zeiten seien vorbei, jedenfalls in der ARD, heute ein Ort der „Verlotterung“ journalistischer Sitten.

Nun bin ich als ehemaliger „Strukturagent“ (so nennt Fröhder sehr witzig die Rundfunkfunktionäre) und Regionaljournalist (für den Tagesschau-/Tagesthemenbeiträge mit das Größte im Berufsalltag waren) wohl etwas befangen. Über die Mühen der Ebene weiß ich einfach zu viel. Was jeden Tag um 20 Uhr auf dem Screen läuft, ist ein ständiger Kompromiss mit der Realität. Und deshalb nicht gerade ideal.

Zudem erinnere ich mich: Grundsatz-Kritik an der Tagesschau gibt es seit mindestens 40 Jahren. Unzählige Schulklassen und Publizistik-Kurse dürften mit der vernichtenden Analyse der TV-Nachrichten durch einen gewissen Bernward Wember konfrontiert worden sein. Da war schon damals etwas dran, theoretisch wie praktisch.

Das Format TV-Nachrichten ist eine Dauerbaustelle für die Qualitätssicherung: Unter dem Echtzeitdruck der Medienwelt müssen sich Redaktion und Kundschaft ständig über Erwartungen und Möglichkeiten abgleichen. Dabei geht es manchmal recht zickig zu. Ohne Medienkompetenz beim Publikum und Reflexion beim Sender funktioniert es nicht. Vor allem müssen beide Seiten glauben, dass sich der Aufwand lohnt. Vertrauen haben.

Aber es gibt auch eine sehr modische Abkürzung: Systemfrust. Immer gut abzulesen an den Reaktionen des Online-Kommentarvolkes: Bis auf seltene Ausnahmen grundsätzlicher Vertrauens-Entzug. Verblüffend häufig herrscht Hass auf Augenhöhe, gegen die (öffentlich-rechtlichen) Alt-Medien. Ein Wort wie „Gebühren-Gestapo“ gilt dabei für die Forums-Moderation von Spiegel-Online offenbar als „Nettikette“. Man könnte es auch Ritual-Rufmord nennen.

Wenn nun die Altvorderen in diesem Grundsatzgrummeln noch ihre rituellen Abgesänge anstimmen, dann zieht die Gegenwart endgültig den Kürzeren. Hat weder eine Chance gegen die Vergangenheit noch gegen die Zukunft. Mir tut das leid für die vielen aktuellen Journalistinnen und Journalisten, die mit solchen Rundumschlägen immer zu nützlichen oder nutzlosen Idioten gestempelt werden. Während sie sich mit den realen Verhältnissen herumschlagen.

Aber auch um die nachfolgende Generation. Hoffentlich bekommt sie noch ihre Chance, bevor das „System“ abgeschafft wird. Denn der kann ich nur aus eigener Erfahrung sagen: Noch stabiler als das Tagesschau-Ritual ist die die immer gleiche Antwort auf die Frage, ob es früher besser war.

Als Baby Boomer kam ich selbst wohl einen Tick zu spät für die wirklich goldenen Zeiten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Es wird sie gegeben haben. Als ich jedenfalls vor einem Vierteljahrhundert mit einem Kamerateam zum Dreh aufbrach, bekam ich als Erstes zu hören, dass der Fernsehjournalismus auch nicht mehr das ist, was er mal war.

Vielleicht ist das ja auch ganz gut so.

tl;dr: Akzeptieren wir das Ritual des Abgesangs auf die goldenen Zeiten: Morgen wird die Tagesschau früher besser gewesen sein. Also heute. Na dann, Redaktion und Publikum: an die Arbeit!

 

Kommentare

  1. Ich halte Ihre Darstellung für zu einfach. Es ist wohl korrekt, dass Medien seit Jahrzehnten kritisiert werden. Daraus darf man nicht schlussfolgern, dass die gegenwärtige Debatte eine Wiederkehr des Immergleichen sei. Es gibt schon berechtigte Argumente für den Zweifel an unseren, zumindest deutschen Medien. Dieser Zweifel ist hie und da auch gut unterlegt worden durch Fakten. Aktuell beziehen sich die Zweifel etwa auf eine etwas einseitige Darstellung des Ukrainekonflikts. Schaut man über den Tellerrand hinaus, ist das offenbar schon ein systemisches Problem. Vokabeln wie „Putin-Versteher“ sind genauso Symptom wie Magazintitel mit dem Aufruf „Stoppt Putin jetzt“. Da ist etwas aus dem Lot geraten.

    Auch strukturell hat sich die Medienlandschaft verändert. Es gibt Privatfernsehen. Die Zeitungen sind ökonomisch stark unter Druck geraten, die Redaktionen werden zusammengelegt, vieles an freie Mitarbeiter delegiert. Es gibt das Internet, das neben Verschwörungstheorien durchaus viele Fakten bietet und damit den Medien Konkurrenz macht. Über Blogs können Fachleute öffentlich informieren und treten damit in Konkurrenz zum Deutungsanspruch der Journalisten. Angesichts solcher Informationsquellen wirken nicht wenige Journalisten unbedarft, insbesondere die Funktionsweise des politischen Systems scheint etlichen journalistischen Kommentatoren nur unzureichend bekannt zu sein.

    Es gibt auch, siehe z.B. Lutz Hachmeisters Texte, unterschiedliche Trends des Journalismus. Hachmeister hat für die Nuller Jahre z.B. eine Zunahme des Stimmungsjournalismus ausgemacht.

    Das alles begründet, warum man jetzt, in dieser Zeit eine medienkritische Debatte führen sollte und warum diese Debatte keineswegs bloß das Klagen alter Männer über vermeintliche Verfallserscheinungen ist.

    • Im Grunde kein Widerspruch von/zu mir: Kritik an der Arbeit der Medien, auch der der Tagesschau, erscheint sehr angebracht. Nur ist der Prozess der Besserung frustrierend kleinteilig. Als Journalist habe ich versucht, im ständigen Selbst-Zweifel zu leben. Was ich hier am Ritual der „Goldenen Zeiten“ kritisiere, ist, dass es sie nie gab. Nicht geben wird. Wer mit großem Gestus „das System“ verlässt oder gar dessen Zerschlagung fordert, verkennt meines Erachtens die Natur der Aufgabe. Sie besteht genau in jener respektvollen medienkritischen Debatte, die Sie völlig zu Recht einfordern.

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