Was für ein gruseliger Moment, als am Abend der letzten Bundestagswahl Alexander Gauland von der AfD verkündete: „Wir werden sie jagen!“ Und welch bittere Pointe heute: Unser gehetztes, aber immer noch freies Mediensystem beginnt, sich selbst zu hassen.
Der weithin sichtbare symbolische Höhepunkt dieser Fehlentwicklung ist für mich die Eskalation einer Diskussion um einen Beitrag in der ZEIT unter dem verkorksten Titel: „Oder soll man es lassen?“ Thema: Private Seenotrettung im Mittelmeer. Irgendwie verfehlt.
Aus diesem Anlass entlud sich, unter anderem, ein heftiges Twitter-Gewitter gegen das renommierte Blatt und eine ihrer Autorinnen, Mariam Lau. Soviel Frust hatte sich wohl inzwischen grundsätzlich gegen die öffentliche Allgegenwart extremer Positionen beim Thema Flucht aufgestaut. Argumentiert wurde mit Goldwaage und Holzhammer. (Berechtigte) Medienkritik außer Rand und Band.
Selbst nachdem die ZEIT Fehler eingeräumt und alternativen Sichtweisen weiteren Raum eröffnet hatte, ging der Kampf für einige Kollegen weiter. Das wurde Anja Maier von der taz schließlich zu viel:
In jeder Zeitung, in jedem Medium verrutscht mal der Ton, werden Fakten verkürzt, wird nicht lange genug diskutiert. Es werden falsche Entscheidungen getroffen. Dies aussprechen zu können, ohne dass es von der publizistischen Konkurrenz als Einladung zum Draufschlagen verstanden wird – diese Möglichkeit sollte sich die Branche nicht abkaufen lassen.
Doch allgemein herrscht weiterhin Aufregung auf der Metaebene. Eine im Branchendiskurs viel zitierte Stimme gehört dem Blogger Thomas Knüwer. Er wirft der ZEIT vor:
Sie klappert hinterher und signalisiert so dem eher liberalen Bürgertum, dass es angemessen ist, Holocaust-Leugner zu unterstützen, Menschen ersaufen zu lassen und die AFD mutig zu nennen.
Ein „Signal, dass es angemessen ist, … Menschen ersaufen zu lassen“. Mörderische ZEITen, starker Tobak – wie kommt der Blogger darauf? Sein Beitrag beklagt das unerlaubte Überqueren einer „Grenze des Sagbaren“ im öffentlichen Gespräch der Gesellschaft.
Rahmenhandlung
Zur Begründung serviert Knüwer eine Theorie, die These vom „Overton-Fenster“, benannt nach dem Politologen Joseph P. Overton von der konservativen US-Denkfabrik Mackinac-Center. Grob gesagt, geht es darum, was in politischen Debatten an Positionen noch zulässig ist. Soziale oder politische Bewegungen mit einer gewissen Potenz könnten die Grenzen dieses Fensters verschieben, so dass dann beispielsweise extremere Auffassungen öffentlich geduldet werden.
Dieser theoretische Ansatz ist etwas schillernd und dient vor allem einer interessensgeleiteten Politikberatung sowie, recht problematisch, als Argumentationsfundament für allerlei Verschwörer und Faschos. Andererseits werden im Medienmeta-Diskurs ohnehin (kommunikations-) wissenschaftliche Begriffe wie Kamellen ins Publikum geworfen: Narrativ, Agenda-Setting, Schweigespirale und, unverzichtbar: Framing.
Sicher ist an alldem etwas dran: Die Sichtbarkeit von Positionen wird durch komplexe, schwer durchschaubare Prozesse organisiert. Wenn es dann zu einem Kampf um die fundamentale Deutungshoheit kommt – sobald es also von alternativen Mächten (und Fakten) herausgefordert wird – hat das Establishment ziemlich genau zwei Möglichkeiten: die Provokateure integrieren oder ignorieren. „Therapieren“ versus „Nihilieren“ – so benennen es die beiden Wissensoziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann in ihrem berühmten Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit.“
Therapieren klappt allerdings nur, wenn es eine Bereitschaft zum Dialog gibt, also eine Verständigungsbasis. Diese Grundlage wird durch die Schwarz-Weiß-Dynamik – ich nenne es „Dichotom-Energie“ – beispielsweise in der Flucht-Debatte immer weiter aufgelöst. Bei Hardcore-Systemgegnern wäre eh wenig zu erwarten.
Das Nihilieren (Kunstwort) wiederum setzt voraus, dass das eigene System über die Möglichkeiten zur Ignoranz verfügt, also die nicht geduldete Auffassung zum Verschwinden bringen kann. An dieser Stelle tritt die selbtrefenzielle Schwäche der Framing- und Overton-Diskussionen zutage.
Die Technolgie-Soziologin Zeynep Tufekci hat es in der New York Times bereits 2016 in Bezug auf Donald T so auf den Punkt gebracht:
The Trump phenomenon is not simply a creation of newspaper columnists or cable news bookers who initially thought his candidacy was a joke to be exploited for ratings. His emergence shows the strength of his supporters, united on social media, who believe that the media is a joke. Mr. Trump and his fans have broken the Overton window, and there is no going back.
Der Rahmen des Overton-Fensters liegt in Trümmern. Quelle: Internet. Die Macht der vielen Social Media-Nutzer. Dieser Umstand hat auch Folgen für die Hüter/innen der Sagbarkeits-Grenzen:
We are in an era of rapidly weakening gatekeepers.
Haltungsfragen
Wir sollten also die zunehmend heftigen Medienmeta-Debatten anders deuten: Als Ausdruck einer großen Verunsicherung der Journalistinnen und Journalisten in der Trump-Gauland-Ära. Zwei Prinzipien – Urformeln geradezu – im Rollenverständnis stehen sich einmal mehr schroff gegenüber: Das Konzept der Haltung und die Norm der Objektivität. Für diese Bipolarität gibt es ein Füllhorn anderer Etiketten. Ich lasse es geschlossen.
Was unter einer Haltung in diesen Zeiten journalistisch verstanden werden kann, erläutert Georg Diez, Kolumnist bei Spiegel Online:
Wir sind in Deutschland und weltweit in den westlichen Demokratien in der Situation, wo die Medien tatsächlich sich stärker darüber definieren müssten oder sollten, die demokratischen Grundwerte zu vertreten, durchaus auch explizit. Und das ist für uns eine Veränderung der Rolle der Medien, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg in den letzten 70 Jahren eingenommen hat.
Ein anderer prominenter SPON-Kolumnist, Sascha Lobo, hebt das Thema auf die weltpolitische Ebene. Man könne das rhetorisch Erbrochene eines Donald Trump nicht den Regeln der journalistischen Kunst als Restaurantkritik abhandeln. Haltung und Berichterstattung seien nicht mehr zu trennen.
Nun sagen allerdings bis in die jüngste Zeit alle einschlägigen Studien, dass Journalisten/innen dem Rollenverständnis „neutrale/r Vermittler/in“ am stärksten zustimmen. „Dinge so zu berichten, wie sie sind“, „Aktuelles Geschehen einordnen und analysieren“ sowie „Ein unparteiischer Beobachter sein“ ernten z.B. bei der Erhebung „Worlds of Journalism“ (Deutschland: Thomas Hanitzsch) sehr hohe Zustimmungswerte.
Eine ganz andere Frage ist natürlich die nach der Handlungsrelevanz. Geht das überhaupt? Lassen Persönlichkeit der Akteure oder die Logik des Mediensytems Objektivität überhaupt zu? Rhetorische Frage – sortenrein natürlich nicht! Nur wäre der Umkehrschluss – „Hauptsache Haltung, der handwerkliche Rest wird überschätzt.“ – fatal. Bei aller berechtigten Sorge um die liberale Demokratie (ohne Ironie).
In „Wahrheit“ handelt es sich um ein Paradoxon des Journalismus: Die (berechtigte) Erwartung der Gesellschaft, von den Medien eine möglichst zutreffende Beobachtung geliefert zu bekommen kollidiert massiv mit dem Umstand, dass es keinen neutralen, interessensfreien und zwanglosen Beobachterstandpunkt geben kann. Trotzdem ist es aber möglich, ja unausweichlich, in einer Gesellschaft bestimmte Standards zu entwickeln, um sich kollektiv zu verständigen. Diese ambivalente Aufgabe muss ein funktionstüchtiges Mediensystem, müssen seine Akteure bewältigen.
Haltung ist da sicher außerordentlich wichtig. Aber als verabsolutierte Subjektivität läuft sie Gefahr, zur Pose zu degenerieren. Berichterstattung und Meinung lassen sich durchaus trennen, selbst bei Trump. Wenig Chancen werden dagegen einseitige Versuche haben, dem Publikum die Augen zu verbinden. Es wird schon schwer genug, sie zu öffnen.
Therapievorschlag
Am Ende eines solchen Textes möchte ich keine Forderungen aufstellen, die mit „Wir brauchen endlich eine breite gesellschaftliche Debatte über …“ anfangen. Es geht erdiger.
Eine – zugegeben – klassisch konservative Lösung bietet der Medienwissenschaftler Stephan Russ-Mohl an. In seinem Buch „Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde“ plädiert er für „soliden Aufklärungsjournalismus“ und gibt dazu drei Hinweise:
Erstens sollten wir mit der „rationalen Ignoranz“ des modernen Menschen rechnen, der einfach nicht mehr alles wissen kann, nicht wissen will und sowieso ein recht ambivalentes Wesen ist.
Zweitens gilt es, „abgestufte Verantwortung“ (Robert Spaemann) zu übernehmen, also dort ethisch zu handeln, wo man konkreten Einfluss hat, in der eigenen Timeline oder im privaten Gespräch.
Und schließlich, drittens, in der eigenen, alltäglichen Arbeit die Kontroll- und Kritikfunktion des Journalismus nach Kräften stützen und argumentieren.
Hiermit geschehen.
Nachtrag 22.07.2018: Zwei Versuchungen konnte ich nicht widerstehen, obwohl sie den Beitrag nochmal verlängern. Zum einen hat just heute der Social Media- und Innovationsbeauftragte der Süddeutschen Zeitung, Dirk von Gehlen, einen Essay im Deutschlandfunk veröffentlicht, der eine sehr spannende „Anti-Haltung“ zum Schwarzweiß- und Masterplan-Denken formuliert: den Shruggie. Das Schulterzucken einer optimistischen Ratlosigkeit angesichts von Problemen, die man weniger final lösen als vielmehr konstruktiv aushalten muss. Von Gehlen will weiter an die Möglichkeit der Menschheit glauben, einen herrschaftsfreien Diskurs zu führen. Und letztlich sei das Netz potenziell genau der richtige Ort dafür. Ich zucke mit den Schultern und drücke die Daumen.
Versuchung Nummer zwei resultiert aus der Überschrift, die den Begriff „Haltung“ enthält. Zweifelsohne ein Schlüsselbegriff. So unscharf und umstritten das Wort ist, Haltung bildet schon ganz gut das Thema journalistisches Selbstverständnis ab. Allerdings reizt es mich, den Gedanken auf etwas zu erweitern, was ich für das eigentliche Thema halte: Habitus. Dieser ursprünglich philosophische Begriff lässt sich durchaus als handfestes soziologisches Werkzeug nutzen. Wie genau, würde an dieser Stelle zu weit führen. Nur so viel: Das Konzept des Habitus erfasst mehr als die bewusste Entscheidung für ein Rollenmodell, hieße es nun neutrale/r Beobachter/in oder Agent/in der Unterdrückten. Im journalistischen Habitus zeigt sich das Ergebnis der persönlichen Sozialisation, mit allem Drum und Dran. Herkunft, Fähigkeiten, Besitzstand, Aussehen … All das und noch viel mehr haben wir inkorporiert und bringen es mit unbewußter Selbstverständlichkeit in unser berufliches und sonstiges Handeln ein. Kleiner Haken am Konzept: Habitus verändert sich ständig und ändert auch die Verhältnisse um sich herum. Außerdem lässt er sich nicht direkt messen, sondern nur am Ergebnis erkennen.
Jedoch: Den Habitus im Journalismus zu untersuchen ist nicht nur ein spannendes Vergnügen für Sonderlinge wie mich. Sondern auch eine Möglichkeit der Selbstreflexion für Personen, Generationen, Professionen. Dabei wird zumindest eines gefördert: Die Abneigung gegen unversöhnliche Vereinfachungen. Darauf einen Shruggie.
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