Sommer im Weltlabor Venedig

Via Garibaldi in der Hauptsaison 2020

Venedig war schon immer der beste Ort, um den Wandel der Welt zu beobachten. Jetzt, in „Coronazeiten“, scheint hier alles möglich und nichts gewiss. Beim Urlaub in der Krise entstehen schaurig-schöne Perspektiven banger Hoffnung auf die Zukunft.

Am vergangenen Wochenende sollte Venedig eigentlich von der Seuche erlöst werden. Das Fest Redentore feiert alljährlich das Ende einer verheerenden Pest im 16. Jahrhundert. Doch die aktuelle Pandemie hat das Erlösungsritual arg eingeschränkt. Nicht mal das große Feuerwerk war erlaubt. Was für eine Enttäuschung. Wie Tannenbaumverbot an Weihnachten.

So erlebt Venedig nun den Ausnahmezustand nach dem Ausnahmezustand. Zwar ist der harte Lockdown beendet, aber Angst um die Gesundheit sowie Sorge um die Existenz sind geblieben. Eine seltsame Sommersaison. Die vergangenen drei Juliwochen habe ich als Schwebezustand empfunden. Bewohner und Besucher versuchen eine Rückkehr zum Alltag, ohne dabei zu riskieren, dass alte Probleme wieder aufflammen.

Tatsächlich belebt sich die Szenerie langsam. Wird zur Weltbühne der Möglichkeiten, vor allem der verpassten. Auf einmal sieht man die Stadt wieder richtig. Sogar den Markusplatz. Oder die Bevölkerung. Erschreckend, wie sehr die Schönheit Venedigs all die Jahre hinterm Gewusel verschunden war. Ebenso bedrückend: Es sind wenig Venezianer/-innen übriggelieben, nur etwa 51.000 (Zu Höchstzeiten lebten 200.000 Menschen in der Stadt, wenn auch sehr beengt.).

Das neue Anormal ist zutiefst ambivalent. Meistens kommt man wunderbar ungestört über Plätze und durch Gassen. Dann wird es aber doch mal eng. Schon wächst die Ansteckungsangst. Bei aller Freude an der neuen Übersichtlichkeit weiß niemand, ob das dicke Ende nicht noch kommt. Und sei es in Form des ganz normalen Wahnsinns, also dem Raubbau an der Lagune und ihrer Serenissima.

Angebote für Speisen, Shoppen und Schauen gibt es jedenfalls noch überreichlich. Die Touristen kommen zwar wieder, aber die Zahlen sind, wie es im Wetterbericht heißen würde, „für die Jahreszeit zu niedrig“. Die meisten Betriebe halten sich gerade so über Wasser. Mit möglichst wenig Personal und Sonderangeboten. Ein Überlebenskampf.

Also schnell zurück zum Vorher? So einfach möchten sich das manche machen, vor allem Bürgermeister Luigi Brugnaro. Aber die Realität will noch nicht folgen. Das Reisegeschäft, insbesondere mit Kreuzfahrtschiffen, liegt größtenteils darnieder oder dümpelt. Außerdem ist das Virus gar nicht weg. Weder aus den Krankenhäusern noch aus den Köpfen.

Wenn im Vaporetto oder im Lido-Bus jemand den Mund-Nasenschutz sonstwo hängen hat, gibt es erst böse Blicke, dann schroffe Zurechtweisungen und schlimmstenfalls erbitterten Streit. Das wird dann laut und ziemlich melodramatisch. Ich sah einen bräsigen Mann mit Mundnaseschutz auf Lätzchenhöhe. Er kniete sich irgndwann zynisch vor einer Frau nieder, um sich als Masken-Sünder zu bekennen, während sie bis zum Aussteigen empört auf ihn einredete.

Trotz aller aufgekratzten Sommerfrische bleibt deutlich eine unterschwellige Gereiztheit zu spüren. Niemand weiß schließlich, wie es weitergehen wird. Und ob so weitergehen sollte wie  vorher, ist strittig. Venedig wird damit zu einem wunderschönen Spekulationsraum. Vielleicht ließe sich etwas umgestalten, um den (Selbst-) Zerstörungstrend der letzten Jahre doch noch einmal umzubiegen: Das Problem mit dem Overtourism.

An Warnungen hatte es nie gefehlt: Vor einem Jahr knallte ein Kreufahrtschiff außer Kontrolle gegen ein an der Kaje liegendes Touristenboot. Ein anderer Schwimm-Gigant wurde bei schlechtem Wetter fast gegegen das Ufer gedrückt.

Dann gab es im November ein verheerendes aqua alta, eine Jahrhunderflut mit starken Schäden. Daraufhin beeilten sich die Veranwortlichen, die ewige Skandalbaustelle (seit 2003) eines mobilen künstlichen Deichs zur Adria endlich zu schließen.

… und sie bewegen sich doch! M.O.S.E.-Probe.

Am 10. Juli stand das Sperrwerk M.O.S.E. vor der Generalprobe. Italiens Ministerpräsident Guiseppe Conte sowie die Regionalfürsten des Veneto, Luca Zaia, und Venedigs, Brugnaro, sowie reichlich Medienvertreter/-innen waren dabei. Sie sahen, wie 78 gelbe Stallplatten hydraulisch aufgerichtet wurden. Erstmals in der Geschichte war die Lagune voll gegen die Adria abgeschottet worden.

Vom Lido aus betrachtet, kam einem der historische Moment aber etwas banal daher. Ein nettes Spektakel für wenige Schaulustige. Es wurde während der 90 Minuten viel gewitzelt, etwa über dem doppeldeutigen Umstand, dass das Projekt nur dank „heißer Luft“ funktioniert. Die Stallkonstruktionen liegen normalerweise wassergefüllt am Boden der Seezugänge zur Adria und werden im Notfall durch Leerpumpen aufgerichtet.

Il Mose va, ma i dubbi restano

titelte Il Gazzettino. „Mose funktioniert, aber die Zweifel bleiben“. Zum Beispiel, ob das Ganze auch bei schlechtem Wetter und mehr Wassermassen klappen würde. Was ist mit der Versandung und dem Rost, wenn die Stahlteile lange auf dem Grund liegen? Wie reagiert das Biotop der Lagune auf andere Strömungsverhältnisse?

Während die Lokalzeitung derlei Fragestellungen distanziert beobachtet, geht die hier häufig zitierte Journalistin Petra Reski einen aktivistischen Schritt weiter: Sie wirbt als Publizisiten und kandidiert als Bewohnerin für eine Liste namens terra e aqua, die eine Abkehr vom ökonomischen Wachstumsimperativ erreichen will. Zielpunkt sind die Kommunalwahlen im September.

Mittlerweile ist eine eindrucksvolle Menge von Initiativen für Alternativen entstanden. Modelle, faires Wohnen für Einheimische und Studierende zu ermöglichen, statt Airbnb oder Hotelkästen. Oder zur Förderung für hochwertige handwerkliche und künsterlische Angebote, anstelle von Ramschware und Massenabfertigung. Außerdem organisiert sich der zivile Widerstand effizienter, etwa mit Aktionen gegen Großprojekte. Bei der erwähnten M.O.S.E.-Probe gab es eine kleine unblutige Seeschlacht mit Polizeibooten.

Schau an: „Für eine andere Stadt“

Hinter all dem steckt die Hoffnung auf ein vernünftig ausgestattetes soziales Labor, jetzt, da Corona die ökonomische Problem-Pausentaste gedrückt hat. Wie das aussehen könnte, wird u.a. hier gut (und kostenpflichtig) beschrieben.

Es zeigt sich, dass das Überleben Venedigs als lebendige Hauptstadt der Schönheit wohl davon abhängt, dass Unterfinanzierten und -priviligierten geholfen wird. Viele junge Menschen engagieren sich. Wer sie frustriert, versiebt die Zukunft. Auch der globale Generationskonflikt um Klima und Gerechtigkeit wird symbolträchtig in Venedig ausgetragen.

Insofern ist die Stadt ein guter Ort, um auch über (die eigenen) Privilegien nachzudenken. Gerade jetzt hier sein zu können, in diesem „spektakuleeren“ Zustand wie zu Thomas Manns Zeiten, war magisch. Ein exklusives Erlebnis zu einem hohen Preis, den andere zahlen. Dabei wird es nicht bleiben können.

Somit ist Venedig bereits zu einem sehr anschaulichen Labor für eine  nachhaltiges Normal geworden. Jetzt kommt es noch auf die passende Versuchsanlage an.

Kommentare

  1. Karin Voigt-Berner meint:

    Ein sehr guter Bericht mit Aufbruchsperspektiven für ein Venedig im Rahmen einer Zukunft für diese unvergleichliche Stadt, wo diese erfahrbar, erlebbar und erhalten bleibt – jenseits von zerstörerischem Massenkonsum der herkömmlichen Art. Gern auch mit einem Eintrittsgeld der Wertschätzung, oder?

    • Vielen Dank! Ein Eintrittsgeld (für Tagestouristen) ist bereits beschlossen, aber noch ausgesetzt. Ob die nachhaltigeren Perspektiven eröffnet werden, hängt natürlich sehr an der politischen Rahmensetzung. Im September sind Kommunalwahlen, bei denen die sehr unterschiedlichen Interessen aufeinanderprallen dürften.Bislang gab es sowohl in der Wählerschaft (überwiegend Festlandbewohner) als auch in der Stadtregierung ein klares Votum für Massentourismus. Bereits Mitte August sollen wieder einige große Kreuzfahrtschiffe kommen. Allerdings glaube ich nicht, dass in absehbarer Zeit – wenn überhaupt – wieder die alten touristischen Verhältniss eintreten. Weder wird Kreuzfahren im Neuen Normal so attraktiv sein wie vorher, noch dürften die Touristenströme wieder so reichlich fließen wie vorher. Corona könnte so paradoxerweise den positiven Venedig vom selbstzerstörischen Kurs abbringen. Speriamo.

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