Wahrheit wieder weg

Eindeutig: Die Toten von Flug MH 17 (Quelle: Streitkräfte Niederlande)

Eindeutig: Die Toten von Flug MH 17 (Quelle: Streitkräfte Niederlande)

Gleich vorweg das Geständnis: Ich bin verwirrt! Sollte das nur mein Problem sein, wäre ich diesmal richtig erleichtert. Sollten Sie, liebe Leserinnen und Leser, ähnlich drauf sein, dann hat unsere Gesellschaft ein großes Problem: Allgemeine Glaubwürdigkeitserschütterung. Ist die Wahrheit wirklich nur die Erfindung eines Lügners? Das wäre nicht konstruktivistisch. Das wäre destruktiv.

Doch zum Anlass. Oder zu den Anlässen. Plural passt besser. Denn ob es nun um „Homo-Ehe“, Feminismus, Rechtsextremismus oder die Ukraine-Krise geht – wenn ich die Diskussionen als Online-Nutzer verfolge, stelle ich immer häufiger fest: Es geht kaum noch darum, in der Sache zu argumentieren. Trotz der vielen Worte.

Das tatsächliche Ziel vieler Beiträge scheint jetzt überwiegend darin zu bestehen, den Andersdenkenden zu diskreditieren. Und zwar persönlich. Glaubwürdigkeit erschüttern ist mittlerweile medialer Volkssport, betrieben von allen Seiten, auf allen Ebenen.

Natürlich ist das keine neue (rhetorische) Figur im Meinungskampf. Aber wie immer bei der digitalen Entwicklung, beschleunigt und vervielfältigt sich das Phänomen rasant. Dabei bleibt so viel Vertrauen auf der Strecke, dass ein zaghaftes Tasten nach „Wahrheit“ grenzenlos naiv wirkt. Denn die schiere Masse aufgetürmter Daten steht jeder klaren Erkenntnis im Weg. Die Fakten zu realisieren und zu interpretieren, dafür fehlen dem normalen User die Kapazitäten.

Ronja und ihre Hater

Exemplarisch nachvollziehen lässt sich dies anhand das verdienstvollen Beitrags  Über das Zurückschlagen von Empörungswellen und eine seltsame Argumentation im Fall Rönne der Bloggerin Annette Baumkreuz. Aus dem Meinungsstreit über Feminismus im Heute und Jetzt wurde schnell ein wüstes Gebolze. Das geht viral in Nullkommanix. Hässliche und bedrohliche Worte schwirren durch den Raum.

Beispielsweise twittert die Journalistin Anna-Mareike Krause die Autorin Ronja von Rönne samt Weltbild in rechtsextreme Nähe. Die hatte gegen Feminismus polemisiert und bekam nun Saures und Übles aus dem Netz. Dann fragt der Promi-Blogger „Don Alphonso“, wie wir im Netz solchen Hasswellen – Hatespeach –  Herr bzw. Frau werden. Daraufhin wiederum bekommt der Ankläger Don Alphonso  sein Fett weg, sei er doch selbst ein „schlimmer Verleumder und Hetzer„. Also bloggt Michael Seemann, eine andere Netz-Größe.

Worum ging es nochmal? Digitale Herzensbildung? Na, eher wohl nicht.

Nein, es geht schon längst nicht mehr um ein menschliches Maß an Diskussionskultur. Sondern darum, wer sich überhaupt äußern dürfen sollte. Übrigens keine Dummköpfe, die sich da beharken. Aber echt hart im Geben.

MH 17: Diskussion im freien Fall

Die eben geschilderte Auseinandersetzung ist schon kleinteilig genug, wenn man sich ein umfassendes Bild des Konfliktes verschaffen will. Aber nichts im Vergleich zu dem Recherche-Aufwand, dessen es bedürfte, um die Veröffentlichung der investigativen Rechercheplattform „bellingcat“ zum Absturz von Flug MH 17 über der Ukraine im Sommer 2014 einzuordnen. Dafür bräuchte man im Grunde ein Forschungssemester.

Stattdessen nun nur mein kurzes Erlebnis-Protokoll: Erst lese ich im Netz, zugegeben grob, den Bericht über die behaupteten russischen Manipulation von angeblichen Beweisfotos für die ukrainische Schuld. Im Ergebnis finde ich das nachvollziehbar und werde von vielen journalistischen Angeboten– man spricht jetzt wohl inzwischen von „Mainstream-Medien“- darin bestärkt.

Dann jedoch twittert es erhebliche Zweifel in den Branchen-Raum.

Den entsprechenden Artikel der Plattform „the hobo and the gypsy“ führe ich mir natürlich auch zu Gemüte. Inhaltlich weckt er Zweifel an der „bellingcat„- Expertise. Nicht nur daran. Vielmehr urteilt der Artikel gleich die ganze Projektplattform ab:

Die Mängel und Fehler sind so schwerwiegend, dass man weder von Experten noch Investigativ-Journalisten sprechen kann.

Stilistisch erzeugt der Text bei mir unangenehme Störgefühle. Die Behauptung, bei bellingcat arbeiteten blutige Laien und deutsche Medien agierten unseriös, wird wortreich mit wissenschaftlichem Gestus, jedoch letztlich nur anhand eines Details durch dekliniert.

So weit, so verwirrend. Denn wie sollte ich nun beurteilen, was es mit den Fotos wirklich auf sich hat? So ganz ohne Experten-Stab? Hätte ich nicht ein sehr aufschlussreiches Stück der Krautreporter  gelesen, würde mir wichtiger Kontext fehlen. Doch nun glaube ich immerhin Folgendes verstanden zu haben:

1. „bellingcat“ ist eine ernst zu nehmende Recherche-Gruppe, die ihre Leistungsfähigkeit auch schon einmal unter Beweis gestellt hat. Unfehlbar dürfte auch sie nicht sein. Aber ebenso wenig unfähig.

2. Mehrere, vielleicht alle Staaten unterhalten inzwischen Gegenpropaganda-Abteilungen für das Internet, die gezielt kritische Darstellungen als unseriös herabsetzen. Häufig im akademischen Duktus, kleinteiligen Zweifel säend.

3. Ziel dieser Gegenkräfte – vermeiden wir mal seltsame Begriffe wie „Troll-Armeen“ – sei es, uns alle gewissermaßen in einen Zustand des grundsätzlichen Unglaubens zu versetzen. Motto: Alles ist relativ … verlogen.

Super – nichts wissen können und nichts glauben dürfen. Da stehe ich also und bin verwirrt. Ich wüsste natürlich zu gern, wer genau hinter „the hobo and the gypsy“ steckt. Aber ich habe wirklich keine Ahnung. Auch würde ich die ganzen Links zum Thema nachverfolgen und sowieso alles noch mal nachrecherchieren.

Oder? NEIN, würde ich eben nicht! Schaffe ich auch gar nicht. Im Gegenteil und ich sage es ganz ungeschützt: Am liebsten würde ich weiterhin ein paar Medienangeboten vertrauen, die mir diese Arbeit abnehmen.

Nun ist es raus: Peinlich, nicht? Aber hoffentlich auch ein bisschen verständlich.

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