Zum Beispiel Ritterhude. Eine Nachrichtenexplosion

Hören und sagen

Hören und sagen

Da sitzt du auf dem heimischen Sofa, siehst fern und hörst plötzlich einen dumpfem Knall, der nicht vom Krimi stammt. Gehst auf den Second Screen. Wirst im Netz fündig: In Ritterhude ist eine Industrieanlage explodiert. Journalismus just in Time-Line. Informativ und irritierend zugleich für mich ehemaligen Regionalreporter. Eine Homestory.

Nur den Bruchteil einer Sekunde hing es in der Luft, ein dumpfes Wummern, leicht vibrierend. Genug für eine Irritation am Fernsehabend. Auf dem Schirm „Mord mit Aussicht“. Und das Ipad zeigt die wirkliche Katastrophe gleich nebenan. In der Time-Line überschlagen sich die Meldungen und vermischen sich die Medienebenen. So wird mir die Explosion in Ritterhude zum kleinen persönlichen Lehrstück über digitalen Wandel.

Regional und relevant

Ein Schwerverletzter wird geborgen, es gibt zwei Leichtverletzte. Es brennt heftig, es raucht giftig. Schaden in Millionenhöhe entsteht, viele umliegende Gebäude werden beschädigt, sogar die regionale Bahnstrecke ist vorübergehend betroffen. Das Unglück auf dem Gelände der Entsorgungsfirma OrganoFluid in Ritterhude bei Bremen erreicht schnell einen hohen Nachrichtenwert.

Unglücke, Krisen und Kriege sind ja sowieso oft Sieger im mathematischen Relevanz-Rennen des digitalen Zeitalters. Sie sind „schön“ einfach. Katastrophen betreffen Menschen und machen das Publikum betroffen. Uns in der Region interessiert so etwas natürlich besonders. Viele haben die Detonation gespürt, eine Sensation im Wortsinne.

Als ehemaliger Lokalreporter aus dem letzten Jahrhundert darf ich die Social Media Time-Line  einfach mal nur anstaunen. Wie sich hier und heute die Rollen vermischen! Alles muss blitzschnell gehen. Weil es schnell gehen kann. Von den ersten Spekulationen bis zu den letzten vorläufigen Gewissheiten – Profis und Publikum berichten miteinander, gegeneinander, übereinander, durcheinander.

Folgen Sie mir nun bitte , während ich mich simpel sozialmedial zum Thema Ritterhude durchfrage.

1. Was war da los?

Wohl eine verständliche Neugier, nachdem ich, wie Tausende andere in Bremen und umzu auch, den großen Knall mitbekommen habe. Im  sozialen Netzwerk beginnt sofort das „Crowdsourcing“. Der Schwarm wird es wohl am besten wissen. Also fragen Menschen in die Runde, fragen Medienseiten in die Runde, fragt das Stadtportal fragt mit bürgernahem „öhm“ in die Runde.

Zunächst gibt es eher Annäherungen als Antworten. Gerüchte: Verwirrendes über den Brandort („Lackfabrik“), angebliche Giftgase, Spekulationen über Tote und Verletzte. Den Vogel twittert eine australische News-Agentur ab. Sie berichtet von „14.000“ Evakuierungen.

AusNewsRitterhude

Da kommt dann schnell Medienkritik auf:

Ritterhude Redaktionen schreiben ab

Was das betrifft, sitzen aber irgendwie alle im gleichen Glashaus. Beispielsweise vermutet Facebook-Nutzer „@Fa TiH“ – übrigens Mitglied der FB-Gruppe „ARD und ZDF und ihre neoliberalen Lügenmärchen“ –„Tote und Verletzte“ und teilt weitere Inhalte „Live aus Ritterhude“.

Reaktionen wie die von Radio Bremen etwa oder die des Weser Kuriers, sortieren die Fakten, soweit der zeitliche Wettbewerbsdruck dies zulässt. Auf Seiten von etablierten Medienmarken fallen dann Sätze wie „Die Ritterhuder Firma Organo Fluid arbeitet im Sektor der destillativen Rückgewinnung schwieriger Lösemittelmischungen, die teilweise als explosiv eingestuft werden.“ Mit etwas Zeit ließe sich das vermutlich „lesernäher“ ausdrücken. Aber immerhin ist das inhaltlich nicht falsch.

Manche wechseln zwischen Beobachter- und Helferrolle. Weil einige Anwohner nahe der Unglücksstelle ihre Häuser verlassen müssen, bildet sich eine Facebook-Gruppe, die Unterkünfte anbietet.

Da will dann auch der schillernde Wetterforsch Jörg Kachelmann nicht zurückstehen. Auf Twitter informiert er als „Schweizer. Vater. Gatte. Wetter“ all jene, denen wegen der angeblich giftigen Rauchwolken bange ist: „Westwind“

2. Was gab es zu sehen?

Viel – eine hohe Rauchsäule, lodernde Flammen, zerstörte Gebäude, Hunderte Einsatzkräfte. Innerhalb von Minuten stehen jedem Internetnutzer Dutzende Einzelaufnahmen, Bildstrecken und Videos zur Verfügung. Ob Zeitung, Fernsehen oder Radio – um Fotos ringen sie alle. Bei weitem nicht jedes davon wurde selbst geschossen. Sondern lediglich schwarmgefischt und mit-geteilt.

Antenne Niedersachsen bietet auf Storify die „ersten Bildern“. Könnte auch der Titel beim Onlineangebot des Weser Kurier sein, der in seiner Bild-Klickstrecke Profiaufnahmen und Laienfotos mischt.

Tja – und wer prüft eigentlich die Zuverlässigkeit der Fotos von sagen wir mal, „StockimArsch“ (der, glaube ich, zuverlässig ist, trotz dieses … Namens) ? Gut, es ist nicht der Gaza-Krieg. Aber trotzdem. Die Bilderflut schwappt erstmal los.

Die Beschaffung von authentischem Material erscheint zudem nicht unheikel, Hilfsbereite und Hinderer, Gute und Gaffer sind oft schwer zu unterscheiden. Und der Appell „Schickt uns Fotos, aber fahrt nicht zur Unfallstelle“, könnte widersprüchlich wirken. Jedenfalls waren die Zufahrtsstraßen zum Brandort teilweise überlastet, nicht nur durch Löschfahrzeuge.

Besonders augenfällig wird das in diesem Video, das für den nachrichtentechnisch flinken Weser Report prompt zu bösen Kommentaren führte:

Reden wir denn eigentlich noch über Schaulustige“ oder vielmehr schon von „Ad-Hoc-Journalisten“, so im Sinne des Internet-Erklär-Professors Jeff Jarvis? Als Bürgerreporter sind wir dochquasi alle ständig im Einsatz, smartphone vorausgesetzt. Neu ist das Thema Behinderung und Indiskretion am Einsatzort natürlich nicht. Aber auch hier gilt der kleine große Unterschied zur Analog-Zeit: Die Masse macht´s schwieriger.

3. Was heißt das für den Journalismus?

Oder wird diese Frage zunehmend irrelevant – so wie die Unterscheidung zwischen Bloggern und Journalisten? Denn während ich den verschlungenen Verlinkungen gefolgt bin, habe ich mehr als einmal den Faden verloren, bin irgendwo oder nirgendwo gelandet, vom Serösesten ins Tausendsde und zurück gelangt. Dabei beschleicht mich das Gefühl, dass es den Berufsjournalisten im Explosionseinsatz manchmal genauso ging.

In solchen Situation wird die Grundfrage des Internets unmittelbar greifbar: Wem vertrauen wir medial? Sorgfältige Prüfung und Zurückhaltung wirft die Anbieter zurück, im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit. Und der vermeintliche Königsweg, einfach dem Publikum eine Plattform für User Generated Content zu bieten, kann sich als delikat erweisen.

Was haben wir vor Jahren über „VJ“s (Videojournalisten) in den Redaktionen diskutiert! Oder über die ethischen Bedenken, Rettungskräfte mit Kameras für die Berichterstattung auszurüsten. Inzwischen gibt es „Blaulicht-Portale“, die Einsätze filmen, das Material dann verkaufen und den Behörden zur Schulung kostenfrei anbieten. Gegenleistung: „Sagt uns zuerst Bescheid, wenn es brennt.“ Die Kunden solcher Dienstleister: Medienmarken, auch öffentlich-rechliche.

Von der Debatte „Online first – Ja oder Nein?“ will ich gar nicht erst reden. Inzwischen lesen wir diese Story eher auf den hinteren Seite im Facebook der Mediengeschichte.

So wie beim Beispiel Ritterhude geht es mir eigentlich immer, wenn ich mich in Themen des Medienwandels vertiefe. Erst denkst du: „Donnerwetter, was neuerdings aus dem Journalismus geworden ist!“ Etwas später: „Irgendwie kenne ich das doch von früher.“ Und schließlich bleibt die Einsicht: „Nix Neues – nur immer mehr und schneller.“

Es bleibt sich weiter anders

Nach all den Jahren kann ich mich einerseits nicht entschließen, diese Entwicklung gut zu finden. Aber vielleicht sehe ich das ja wegen meiner Geschichte so. Alte Journalisten-Generation eben. Auf der anderen Seite wünsche ich mir ja weder die vergoldeten Zeiten ganz zurück, noch verkenne ich die Chancen der Gegenwart. .

Diese Ambivalenz, diesen Widerspruch im digitalen Zeitalter gilt es wohl noch lange auszuhalten. Tröstlich: Wir können immer noch eingreifen, Medienwandel bleibt gestaltbar, obwohl schon viel im wahrsten Sinne konfiguriert ist. Nur wird das eine Menge Arbeit, nicht nur für Journalisten.

In meiner Lokalzeitung finde ich heute morgen, neben einem Foto vom Brand und einem eiligen Artikel dazu, diesen rührend anachronistichen Satz:„Mehr zum Unglück lesen Sie in unserer morgigen Ausgabe.“ In 24 Stunden!!!

Trotz Echtzeit-Internet – diese Welt bleibt menschlich ungleichzeitig.

Kleines Upddate: Mich haben auch heute (11.09.) die Zeitungsartikel im Lokalblatt interessiert, genauso wie sich das Warten auf den abendlichen Bericht im Regionalfernsehen gelohnt hat. Nicht zuletzt freut es mich, jetzt noch ein paar Rechtschreibfehler weg-upzudaten. Ach – dieser Zeitdruck immer …

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