„Das Venedig-Prinzip“ im Fernsehen

Kehrseite der Lagune - Demo in Venedig am 9.6.2013

Kehrseite der Lagune – Demo in Venedig am 9.6.2013

Kultur und Pessimismus vereinigen sich nirgendwo besser als in Venedig. Auch in der Dokumentation „Das Venedig-Prinzip“, die heute um 22.45 im Ersten (ARD) läuft, darf die Stadt wieder machen, was sie am besten kann: Untergehen. Überflutet diesmal vom Massentourismus. Wer allerdings den Satz „Früher war alles besser“ nicht mehr hören kann, sollte diesen Film lieber meiden. Für alle anderen ist er Pflicht.

„Offenlegung“ – wie es heute so schön heißt: Ich halte mich seit Jahren öfter und länger in Venedig auf und bin insofern vermutlich Teil des Problems. Worin besteht das? Die Stadt ist einfach zu voll. Alle wollen sie sehen. Diese Welthauptstadt der Herzen und der Künste eben. Nun ist die Welt bevölkerter und die Weltbevölkerung mobiler geworden. Im Schnitt kommen jeden Tag fast so viele Menschen in die Serenissima wie Venedig Einwohner hat: knapp 59.000.

Darüber machen sich besonders jene Sorgen, die lieber etwas ungestörter Dogenpalast, Canal Grande und Biennale genießen würden. Die außer sich selbst keine Fremden in der Stadt dulden. Tagsüber, in der Hauptsaison, an den Hot Spots jedenfalls. Da wird es dann nämlich massig, genauso wie beispielsweise in Florenz, Rom oder Rothenburg. In den Randzeiten, jenseits der Ferien und abseits der Hauptpfade, da finden Besucher noch immer ruhige Gassen und sogar Campi mit original venezianischen Kindern. Man könnte also sagen: Nicht aufregen, so ist das nun mal mit dem Tourismus. Einfach ausweichen.

Andererseits wird es tatsächlich eng für die eingeborenen Venezianer. Sie haben im Laufe der letzten Jahre den Fluchtraum ihrer Parallelwelt nahezu eingebüßt. Immer öfter sind selbst ihre Schleichwege verstopft (Demnächst nach zu verfolgen auf Google earth). Ihre Kneipen werden als Geheimtipp gehandelt  (im World Wide Web).  Ihr Wohnungsmarkt wurde mit Investorengeld geflutet (Ein Blick ins Internet genügt, um Quadratmeterpreise auf München-Schwabing-Level zu ermitteln)

Vor allem hier setzt die Dokumentation „Das Venedig-Prinzip“ von Andreas Pichler an. Bei den Konsequenzen der Selbstausbeutung einer Stadt für das Leben ihrer Bewohner. Wir lernen einige von Ihnen näher kennen, Rentner, Umzugshelfer, Makler. Und wir hören sie schimpfen. Dabei muss man nicht alles für bare Münze nehmen. Einiges ist effektvoll übertreiben. Aber es bleibt erschreckend zu sehen, wie hier etwas grundsätzlich aus dem Gleichgewicht geraten zu sein scheint.

Dabei machen die Venezianer nach wie vor, was sie seit Jahrhunderten tun und worauf die ganze Pracht der Stadt überhaupt beruht – andere rücksichtslos ausbeuten. Früher allerdings konnte man die Fremden auf Abstand halten. Es gab ja zunächst nicht einmal Brücken zum Festland. Als die kamen, war man immerhin noch in der Überzahl. Wie so oft in unserer Zeit ist das Ganze also eine Frage der Dimension geworden. Die Problem-Riesen heißen: Kreuzfahrtschiffe und M.O.S.E.

M.O.S.E ist ein milliardenschweres Flutschutzprojekt, das die Lagune bald vor dem Hochwasser schützen soll. Ob das klappt und ob die Abschottung vielleicht das Biotop der Lagune gefährdet, ist umstritten. Korruptions-Ermittlungen gibt es natürlich auch schon, so eine Art italienischer Orts-Zuschlag. Das Projekt fällt für seine Gegner in die Stuttgart-21-Liga. Weshalb bei den Demonstrationen gegen die gigantischen Auswüchse des „Venedig-Prinzips“ auch schwäbische Solidaritäts-Delegationen angereist kommen.

Die Kreuzfahrtschiffe sind einfach nur MIST! Da haben die Venezianer wirklich einen Knall, mit Verlaub. Vielleicht historisch bedingt, denn schon ein großer Teil der mittelalterlichen Kreuzzüge startet von dort. Zu den beeindrucktesten Szenen des Dokumentarfilms gehört die groteske Fahrt der MSC Magnifica durch den Canale Guidecca und anschließend vorbei am prunkvollen Ufer Riva Degli Schiavoni, dessen Gebäude auf einmal wie ein Hüttendorf wirken. Die eigentliche Sorge gilt allerdings den Fundamenten der auf Holzpfählen gegründeten Stadt, die mit jedem Riesenschiff großen Wasserdruck aushalten müssen. Mehrmals in der Woche.

Seit einiger Zeit gibt es nun Gegendruck. Demonstrationen etwa, organisiert von Bürgern im Komitee „No Grandi Navi“. Eine der größten Veranstaltungen fand am 9. Juni statt. Die 1.800 Teilnehmer/innen zogen vor die Zufahrt des venezianischen Kreuzfahrt-Terminals in der Nähe des Piazzale Roma. Ein sehr gemischter Haufen. Viele junge Leute aus der Stadt, hauptsächlich Studenten. Dazu Delegationen aus anderen italienischen Städten sowie die oben erwähnten Schwaben. Und ich. Meine erste Demo seit … Nun ja.

Auch einige ältere Venezianer waren dabei, aber das war eine klare Minderheit. Viel aktiver zeigten sich die Bewohner der Stadt anschließend beim Leserbriefschreiben im örtlichen „Gazzettino“. Ganz überwiegend äußerden sie ihre Sorge, die 6.000 Arbeitsplätze zu verlieren, die am Kreuzfahrtgeschehen hängen sollen. Allerdings zeigen die Proteste Wirkung. Venedigs Bürgermeister Orsoni sucht nach alternativen Routen für die Schiffs-Giganten, weg von den historischen Gebäuden.

Der Kampf Venedig gegen seinen Untergang geht also weiter. Darin liegt das eigentliche „Venedig-Prinzip“, auch wenn der so benannte Dokumentarfilm sich eher als finaler Abgesang gibt. Aber keine Sorge: Fortsetzung folgt.

 

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  1. […] intensiver. Bürger und Besucher, Umweltschützer und Unternehmer, Politiker und Polemiker. Vor internationalem Publikum. Interessensgruppen streiten darüber, ob Venedig bei diesem großen Geschäft unter dem Strich […]

  2. […] zwischen Gewinnstreben und Nachhaltigkeit kommt selten besser auf den Punkt als bei der Frage der Riesen-Kreuzfahrtschiffe: Arbeitsplätze und Einnahmen versus Umweltschutz und […]

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