Kontrollverlust als Dauerzustand

Alles gut - außer Kontrolle?

Alles gut – außer Kontrolle?

16 Millionen „Identitäten“ haben Online-Betrüger wohl geklaut. Wieder eine erhebliche Kränkung der Nutzer durch den Missbrauch digitaler Möglichkeiten. Kann der Staat uns besser schützen? Unwillig oder überfordert! Können uns Unternehmen aus der Patsche helfen? Sind doch selber datenhungrig! Nutzt Eigenvorsorge, also bis an die Zähne betoolen oder ins Funkloch ziehen? Oder sollten wir jetzt nicht radikalere Optionen denken? Es ist doch Post-Privacy. The Click after.

„Das Neue Spiel – nach dem Kontrollverlust“. So heißt das Buchprojekt des Blogger Michael Seemann („mspro“) auf der Crowdfunding-Plattform Startnext. Der Autor argmumentiert darin gegen eine Lähmung des digitalen Fortschritts, etwa durch die Berichte Edward Snowdens. Positive Thesen zum Ende der Privatheit.

Mit der Bitte um Vorkasse für sein Buch folgt Seemann dem Vorbild Dirk von Gehlens („Eine neue Version ist verfügbar“). Was auch diesmal gut geklappt hat. Denn schon vor Fristende kam mehr als genug Geld zusammen (15.000 €). Ich wurde gar nicht mehr gebraucht. Daher bleibt mir nur noch, hier meine zwielichtigen Motive zu beschreiben, weshalb ich dieses Manifest des Post-Privacy-Positivismus unterstützt hätte. Weil nämlich Disput gerade dort heilsam ist, wo er besonders weh tut.

Privat war gestern – für Post-Privacy kein Verlust

Denn offen gestanden: Die Sicht von Michael Seemann auf die vernetzte Welt bring alles auf den Punkt, was mir voll gegen den Strich geht. Vielleicht reicht da gerade noch die haltlose „Declaration of Liquid Culture“ heran. Oder das Werk von Michael Maier „Die ersten Tage der Zukunft“ (2008) – Untertitel: „Wie wir mit dem Internet unser Denken verändern und die Welt retten können.“

Während meine angejahrte Mainstream-Sicht nicht die Menschen für das technische System transparent machen möchte, sondern umgekehrt, denkt die Post-Privacy-Bewegung völlig anders: Ob wir es mögen oder nicht – wir sind bereits alle digital verstrickt. Reagieren können wir darauf nicht mit einer Regulierung des Unbeherrschbaren, sondern nur mit entwaffnender Offenheit.

Michael Seemann beschreibt im Blog „Kontrollverlust“ ebenso lehrreich wie belehrend seit einigen Jahren seine Sicht des digitalen Wandels. Hin zu einer Welt, in der das Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung ein naiver deutscher Traum und Datensparsamkeit falscher schottischer Geiz sind. Weil es nichts nützt, sich vor der Realität zu verkriechen: Dem Ende der Privatsphäre so, wie wir sie kannten.

Im Kern geht es dabei also um die Aufgabe unserer bisherigen Vorstellung von Privacy. So wie ich Seemann verstehe, hat uns Edward Snowden vor allem die Augen dafür geöffnet, dass die Daten aller am besten in den Händen aller aufgehoben sind. Seemann erklärt klar, wo der Feind steht (Staat, vor allem Geheimdienste), wo er nicht steht (Digital-Wirtschaft). Und wer unser aller Freund ist: Ein freies, ungeregeltes Internet. Dies sei keinesfalls „kaputt“.

Netz kaputt oder das Heil an sich? Kampf um Deutungshoheit

Als sich die Netz-Charakterkopf Sascha Lobo kürzlich sonntagszeitungsöffentlich bekannte, von digitalen Fehlentwicklungen wie Dauerüberwachung gekränkt zu sein, reagierte ein bedeutender Teil alter Weggefährten(innen) geradezu beleidigt: „Sascha, wir müssen reden“ schrieb Michael Seemann. Diese Überschrift klang fast ein wenig wie „Lass uns vor die Tür gehen und die Sache unter Männern regeln“.

In der Tat ist der Kampf um digitale Deutungshoheit kein Ponyreiten. In jenem Milieu, das man nicht mehr „Netzgemeinde“ nennen darf, weil das der sicherste Weg ist, von selbiger exkommuniziert zu werden. Mit der Frage, ob Lobo nun ein Renegat sei oder „wir überhaupt noch auf derselben Seite stehen“, endet der Erwiderungspost von mspro dann auch bezeichnenderweise.

Ich weiß nicht, was sich Seemann für den Fall vorstellt, dass beide nunmehr unterschiedliche Auffassungen von der Zukunft des Netzes haben. Für mich jedenfalls fängt der produktive Diskurs zur digitalen Zukunft genau hier an. Wenn von klaren Ausgangspositionen her versucht wird, argumentativ aufeinander zuzugehen.  Gesprächsfähig sein, bedeutet dann allerdings auch zu erwägen, dass der jeweils andere recht haben könnte.

Mein Optimismus: Wandel durch Annäherung

Somit freue ich mich, wenn bald ein sehr gut öffentlich zugängliches Buch über das lebenswerte Leben der Menschen unter der Bedingung der abgeschafften Privatheit entsteht. Noch habe ich nicht die blasseste Ahnung, wie das aussehen soll.

Andererseits schürt die Argumentation Michael Seemanns in mir genau jenes Unbehagen, dass auch Radikal-Pazifisten zu erzeugen vermögen. Ohne Krieger kein Krieg. Entwaffnende Offenheit des Einzelnen setzt er dem gigantischen Beobachtungsapparat Internet entgegen. Ohne Geheimnisse keine Spionage.

Ist da am Ende was dran?

Das Internet der Dinge kann mir persönlich bis zur Rente gestohlen bleiben. Aber das Netz der freien, verblüffenden, kritischen, hilfreichen und absurden Gedanken muss auf jeden Fall erhalten bleiben. Insofern hoffe ich, dass das E-Book „Das neue Spiel“ nicht nur im Argumente-Arsenal der Netz-Utopisten verschwindet, sondern empfehle es schon jetzt insbesondere allen Internet-Skeptikern.

Ohne Dialogfähigkeit wäre auf jeden Fall Game Over.

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  1. […] 16 Millionen Profile von Internetnutzern sollen geklaut worden sein. Es fällt langsam schwer, noch in irgendetwas Digitales Vertrauen zu fassen. Staat, Wirtschaft und Bürger zunehmend ratlos, manchmal unfähig, manchmal unwillig.  […]

  2. […] Kontrollverlust als Dauerzustand: 16 Millionen „Identitäten“ haben Online-Betrüger wohl geklaut. Wieder eine erhebliche Kränkung der Nutzer durch den Missbrauch digitaler Möglichkeiten. – by Dirk Hansen – http://www.dirkhansen.net/kontrollverlust-als-dauerzustand/ […]

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