Skandal als Dauerauftrag: Il Gazzettino aus Venedig

Skandal als Dauerauftrag: Il Gazzettino

Skandal als Dauerauftrag: Il Gazzettino

Untergang ist eine besondere Kunstform und nirgendwo wird sie so gut inszeniert wie in Venedig. Seit Wochen versinkt die ganze Stadt aufsehenerregend im Korruptions-Sumpf, jeden Tag ein bisschen tiefer. Stets dabei: Die Chronisten des Blattes„Il Gazzettino“, also jener Regionalzeitung, die Krimiautorin Donna Leon einmal „meine Bibel“ genannt hat. Ein globales Medienereignis im Lokalteil, solide aufgebaut auf dem Elend einer Stadt, ja eines ganzen Landes.

An jenem  4. Juni 2014 hatte Il Gazzettino nach eigener Darstellung die Breaking News online first, nämlich eine Stunde vor der Konkurrenz: Bestechungsskandal beim Lagunen-Sperrwerksprojekt M.O.S.E. – 35 Spitzenfunktionäre verhaftet; Venedigs Bürgermeister Giorgio Orsoni unter Hausarrest. Das ergab vier Millionen Visits für den Tag und damit das beste Online-Ergebnis seit 1887, dem Gründungsjahr des Blattes.

Die grundbehäbige Zeitung ist die größte der Region. So eine Art italienischer Weser Kurier, wenngleich mit nur halb so hoher Auflage (83.000), dafür aber erheblich mehr Social Media-Erfolg: 112.000 Facebook-Fans und immerhin 20.000 Follower auf Twitter. Ausführliche Notizen aus der Provinz sind das Kerngeschäft, aber man bleibt auch überregional einigermaßen auf dem Laufenden. Manches Kritische ließe sich bestimmt über Ausrichtung und Besitzverhältnisse sagen. Darum geht es jetzt aber nicht.

Sicher, die großen Stories erzählen den Il Gazzettino-Lesern normalerweise von unappetitlichen Verkehrsunfällen, tödliche Familiendramen und hinterhältigen Verbrechen, oder auch vom schönen Schein in der Lagunen-Stadt, vom Strand und vom Sport. Biennale sowieso. Boulevardeske Stories – „Frittierte Maus in der Kartoffelchips-Tüte“ – sind auch jetzt nicht aus dem Blatt oder seinem Web-Auftritt verschwunden.

„Seebeben“ – eine Skandal-Rubrik

Aber die derzeitge Korruptionsaffäre um das Milliardenprojekt in der Lagune ist zum publizistischen Dauerbrenner geworden, nachdem das Thema seine Karriere in den internationalen Schlagzeilen und in den nationalen Nachrichten fast schon wieder hinter sich hat. Il Gazzettino füllt mit einer Rubrik namens „Seebeben“ (Maremoto) seit Anfang Juni viele, viele Seiten.

Diese Woche erfahren wir da beispielsweise, dass ein Staatskommissar die Verwaltung der Stadt übernommen hat. Er soll statt der bisherigen, nun aber verdunsteten Lokal-Autoritäten die Geschicke Venedigs lenken und Wahlen vorbereiten. Einen Neuanfang zu organisieren, das wird eine knifflige Aufgabe, nach diesem beispiellosen Vertrauensverlust.

Denn bei der Affäre geht es nicht nur um ein paar sündige Individuen oder um eine bestimmte Partei. Was zunächst mit Ermittlungen in einem Einzelfall begann, hat sich als strukturelle Korruption erwiesen. Die Zentralfigur sitzt schon seit einem Jahr in Untersuchungshaft: Giovanni Mazzacurati, ehemaliger Chef der Projektschaltstelle „Consorzio Venezia Nuova“. Il Gazzettino bescheibt sein System knapp: „Insomme di tutto un po“ – Für alle ein bisschen. 32 Millionen Euro sind so jahrelang über dunkle Kanäle kreuz und quer durch Venedig und die Region geflossen. Letztlich umgelenkt aus Steuerkassen, versteht sich.

Der ganze Skandal ist komplex, vor allem auf Italienisch. Interessierten empfehle ich einen zusammenfassenden Artikel der ortskundigen und-ansässigen deutsche Journalistin Petra Reski. In ihrem pointierten Blog spitzt sie ihre Sicht nochmal zu, stellt weitere Fragen und knüpft Verbindungen zur strahlenden PR-Politik des Ministerpräsidenten Matteo Renzi. Reski ist übrigens auch Expertin für Organisierte Kriminalität in Italien.

Was den venezianischen Bestechungsskandal so heraushebt – außer der malerischen Kulisse, vor der er spielt – ist seine Dimension: Alle Instanzen, die irgendwie für das Consorzio Venezia Nuova beim 6-Milliarden-Projekte nützlich sein konnten, scheinen geschmiert worden zu sein. Über Jahre hinweg, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Stellung oder politische Richtung.

Natürlich führen einige der Spuren auch Richtung Silvio Berlusconi (der als Regierungschef 2003 den Baubeginn des Sperrwerks  durchsetzte) und zu seiner Partei. In die Affäre verwickelt sind aber auch die aktuelle Regierungspartei Partito Democratico und selbst Bedienstete der altehrwürdigen Behörde „Magistrato alle Aque“ , gegründet 1501.

Schimpf und Schande

Die Geschichte wird nun jeden Tag am Kiosk und im Netz weitererzählt. Auch wenn Italiener an sich nicht als Zeitungssüchtige bekannt sind – wer sich in diesen Wochen offline in der Stadt aufhält, der spürt, wie sehr das Ganze die Venezianer mitnimmt. Wie sie trotz WM, Sommer und Architekturbiennale nicht mehr ohne weiteres  an den Tatsachen vorbeisehen können. Zumal viele Bürger mehr und mehr mit der Entwicklung ihres Gemeinwesens insgesamt hadern.

Da beschreibt mir ein pensionierter Jura-Professor, geborener Venezianer, mit erkennbarer Fassungslosigkeit, wie unbegreiflich ihm das Verhalten seines Bekannten und ehemaligen, geachteten Kollegen erscheint: des zurückgetretenen Bürgermeisters Orsoni. Dem muss das Prestige des Amtes so wichtig gewesen sein, dass er sich die Wiederwahl hat illegal finanzieren lassen. Oder gab es für ihn schlicht keine Wahl in diesem allfassenden Korruptionssystem, unrechtmäßige Parteienfinanzierung inbegriffen?

Die für meinen Lido- Strandabschnitt zuständige Bademeisterin beschäftigt sich gar nicht erst mit der Ratio der Handelnden. Sie spricht vom Gefühl der Scham, die dieser ganze Skandal für die Stadt und ihre Bewohner erzeugt hat. Die Frau vom Lido ist bei weitem nicht die einzige, die sich schlicht gekränkt fühlt. Ausgerechnet Venedig, von dem es einst hieß, dass die Stadt selbst für die Mafia tabu sei. Oder war der alte, rätselhafte Titel der Stadt – La Serenissima („erlauchteste“) schon immer eine hochmütige Behauptung?

Das Sperrwerk und der Problem-Stau

Image hin oder her – das eigentliche Problem bleiben wohl die Probleme. Etwas die Riesen-Kreuzfahrtschiffe: Sichern sie Arbeitsplätze oder gefährden sie Bausubstanz? Oder der Massen-Tourismus: Sorgt er für das großes Geschäft oder den Total-Ausverkauf? Außerdem die Auslands-Investoren: Spenden sie einen warmen Geldsegen oder verabreichen sie Venedig eine gentrifizierende Giftspritze? So in etwa lauten die Kontroversen in den Leserbriefspalten und Online-Foren.

Es wird nicht nur an meinen mitunter mangelnden Sprachkenntnissen liegen: Zwischen unzähligen Analysen entdeckt man kaum politische Visionen. Wo sich dann doch Lösungen andeuten, beispielswese beim Streit um die Route der Kreuzfahrtschiffe durch die Stadt, da haben sich die Beteiligten mittlerweile wieder festgefahren. Im Schlick der diversen Interessen.

Kanal voll: Kreuzfahrtschiff in Venedig

Kanal voll: Kreuzfahrtschiff in Venedig

Andererseits: Verstand es Venedig nicht schon immer, den eigenen Untergang meisterhaft zu inszenieren, ohne ihn wirklich zuzulassen? „Ein heiteres Requiem“ hat der Autor Dirk Schümer diese Aufführungspraxis einmal genannt. Der Stadt ist in der Not fast immer noch ein Ausweg eingefallen. Im ewigen Kampf gegen das Hochwasser, „Aqua Alta“, sollte ja mit dem Sperrwerk M.O.S.E. genau so ein Wurf gelingen. Stattdessen fragen sich jetzt allerdings viele, wie zuverlässig ein Bauwerk funktioniert, das so umfangreich geschmiert werden musste. Und das sich immer weiter verzögert, so wie sonst nur Berliner Großflughafen-Eröffnungen.

Das Problem mit dem Reformstau

„Nichts wird in Venedig so bleiben wie es bisher war.“ So kommentierte Il Gazzettino gleich seinen ersten Bericht über den aktuellen Korruptionsskandal. Wende-Rhetorik allerorten, vor allem in der politischen Szene. Diese Frequenz an Reform-Ankündigungen hat sich durch den dynamischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi noch stark erhört. Schließlich hat er sich den poltischen Kampfnamen „Der Verschrotter“ gegeben.

Könnte sich aber auch alles als reine Öffentlichkeitsarbeit erweisen. Jedenfalls spürt man den Bewohnern Venedigs derzeit neben Wut und Veränderungswillen auch große Enttäuschung, Skepsis und Resignation ab. Schließlich hat Italien bereits vor 20 Jahren sein ganzes Parteiensystem geschreddert, um das allgegenwärtige Prinzip der Tangentopoli (Schmiergeldzahlungen) zu unterbinden.

Nun erschüttern Skandale wie der um M.O.S.E. oder um die Expo in Mailand den Glauben an die Veränderbarkeit des politischen Systems. Und das auch noch ausgerechnet im Norden Italiens, wo man gern auf die Verhältnisse im Süden herabschaut. Vielleicht muss sich das Bel Paese einfach mit einem unauflöslichen Widerspruch abfinden: Je radikaler die Veränderungen umso ernüchternder die Ergebnisse. Oder, um es mit der feinen Ironie des Guiseppe Tomasi di Lampedusa auszudrücken: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern“. (aus dem  Roman “Der Leopard“ über den Niedergang  einer sizilianischen Adelsfamilie  im 19. Jahrhundert)

Verdacht: Brunetti ermittelt bereits

Nein, nein, ich will „Il Gazzettino“ weder zur Weltliteratur noch zur Washington Post machen. Nur mal meine Zufriedenheit mit einem Lokalmedium ausdrücken, das zur richtigen Zeit das Richtige tut: Öffentlichkeit herstellen und das penetrant. In unseren Diskussionen zum Medienwandel führen ja auch gern mal die „Verschrotter“ des Alten das Wort. In den Wochen des M.O.S.E.-Skandals war ich ganz froh, dass Il Gazzettino (und natürlich auch andere) das Zeitungssterben bislang überlebt haben.

So, nun habe ich mein schlimmes venezianisches Ferienerlebnis ausführlich verarbeitet. Vielleicht bin ich da ja nicht mal der einzige. Nach ausführlicher Lektüre ihrer „Bibel“ Il Gazzettino hat Donna Leon inzwischen doch sicher längst Commissario Brunetti  auf den Fall angesetzt.

Kommentare

  1. Lieber Herr Hansen, ich freue mich über jeden (der wenigen), die diesen Skandal überhaupt wahrgenommen haben. Ein Skandal von einer Tragweite, die den norditalienischen Schmiergeldskandal Tangentopoli bei weitem übertrifft. Die Venezianer waren natürlich nicht überrascht, vielleicht nicht mal diejenigen, die festgenommen wurden. Hier sind wir seit Jahrzehnten an eine bis aufs Mark korrupte politische Klasse gewöhnt, und das gilt nicht nur für Rechts (von Forza Italia-Abgeordneten weiß selbst der durchschnittlich gebildete deutsche Zeitungsleser, dass dieser häufig entweder korrupt ist oder mit der Mafia zusammenarbeitet oder beides), sondern auch für Links (und hier sind die deutschen Korrespondenten auf einem Auge blind, leider, weil sie in der Regel ihre Informationen in copy&paste-Manier aus Repubblica und Corriere della Sera beziehen). In Venedig herrscht eine linke politische Klasse, die seit Jahrzehnten das vorlebt, was im großen Stil auch auf Landesebene gelebt wurde: Das große Kuscheln zwischen links und rechts: Du tust mir nicht weh, ich nicht Dir. Und wir alle greifen tief in den Topf öffentlicher Gelder: Politiker, Unternehmer, Beamte. Und was den Gazzettino betrifft: Er konnte sich der Berichterstattung über den MOSE-Skandal natürlich nicht entziehen, bestimmt er doch die Berichterstattung landesweit. Die Arbeit haben aber die Staatsanwälte gemacht – im Gazzettino ist in zwanzig Jahren weder ein einziger kritischer Artikel über die politische Klasse Venedigs und des Venetos erschienen, geschweige denn investigativer Artikel über das MOSE-Projekt und seine Verflechtungen – und das, obwohl man gar nicht so tief hätte graben müssen: Allein schon die Tatsache, dass ein Zusammenschluss privater (!) Bauunternehmer seit Jahrzehnten so ein milliardenschweres Projekt federführend im Griff hat, hätte den einen oder anderen stutzig machen sollen. Aber der Gazzettino gehört dem Verleger Caltagirone, der der politischen Klasse nahe steht (Zeitungen in Italien werden mit öffentlichen Geldern gefördert – die einzige Zeitung, die sich dem entzieht, ist „Il Fatto Quotidiano“, demzufolge ist sie auch die einzige, die wirklich kritisch berichtet). Caltagirone gehört zu dem Italien, das nicht daran interessiert ist, dass sich wirklich etwas Wesentliches ändert hier. Und Renzi ist nichts anderes als die moderne Version des „Gattopardo“: Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt wie es ist. Um so mehr ist verdienstvoll, dass Sie darüber geschrieben haben!

    • Tja, ganz herzlichen Dank für den tieferen Einblick in die venezianischen Abgründe. Natürlich habe ich mir den Gazzettino schön gelesen. Aber schon was dort stand und steht,ist wichtig und eigentlich mehr als man wissen will. Sie haben Recht: Es gäbe keine solche Gesellschaftskrise wie derzeit in Italien, ohne dass dahinter auch strukturelles Versagen der Medien läge. Die Geschichte von „Il Fatto Quodidiano“ belegt dies ja sehr deutlich.

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  1. […] Licht, seit Venedig im vergangenen Jahr zum Zentrum der Korruption in Italien aufgestiegen ist: Flächendeckende Bestechung rund um das Milliarden-Sperrwerk M.O.S.E. Dies soll Venedig gegen Hochwasser (aqua alta) […]

  2. […] während gerade eine neue Stadtregierung gewählt wird, nachdem die alte Spitze infolge eines Bestechungsskandals abgebrochen […]

  3. […] Erst seit kurzem hat Venedig überhaupt erst wieder eine eigene Regierung. Nachdem 2014 ein Korruptionsskandal um das Lagunen-Sperrwerk M.O.S.E. die alten Regenten weggefegt hat, zum Teil ins Gefängnis. […]

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