Werte im Wandel: Aussagen und Ansagen

Froher Frust – Weihnachtspost 2020

Man muss dieses Jahr nicht verstehen – nur überstehen. 2020 wurde extrem gestritten, vor allem um den Glauben an die Fakten und den Gehorsam gegenüber dem Gemeinwohl. Eine verunsicherte Gesellschaft fordert beweisbare Aussagen und klaren Ansagen. Daher basiert der Journalismus der Zukunft auf Evidenz und Moral. Ein Deutungsversuch zum Wertewandel in den Medien.

Einstiegs-Anekdote: Sie haben unsere idyllische Bremer Wohnstrasse einfach überrannt – Vertreter/-innen der Provider Telekom und EWE in der Glasfaser-Offensive. Während der Vorweihnachtszeit klingelte alle paar Tage ein anderer Mensch an der Haustür und nuschelte unter der widerspenstigen Maske das immer gleiche Angebot hervor: „Schließen Sie sich an!“ Oder fragte: „Darf ich kurz hochkommen?“ Highspeed-Internet- und Corona-Hotspot gab es so quasi im Doppelpack.

Soziale Distanz und digitale Kollektivierung sollten theoretisch gut passen. Aber in der Lebensrealtiät entstehen dann die Widersprüche, wie diese wirre Aktion zeigt. Es bleibt jedenfalls schwierig: Wie sollen wir zu einer Gemeinschaft auf Abstand wachsen? Selbst ohne Covid-19 hält gesellschaftliche Entwicklung genug Paradoxien bereit. Aber das Jahr 2020 hat die Widersprüche moderner Existenz menschlich und medial auf auf ein neues Level gehoben.

Als Reaktion auf die uferlose Verunsicherung wächst die Sehnsucht nach Eindeutigkeit. Eine Minderheit findet Erlösung in der Verschwörung. Die wachsende Mehrheit hofft eher auf einen positiven Positivsmus: Unbestechliche wissenschaftliche Erkennntis, zum Guten eingesetzt. Die Zukunft des Journalismus könnte deshalb in einer Art von empirischem Aktivismus gehören. Diese Deutung soll gleich näher hergeleitet werden. Und zwar entlang der zentralen Themenkategorien dieses Medienmeta-Nischenblogs: Öffentlichkeit, Medienkompetenz, Wandel, Generationen, Journalismus und – etwas Schrägheit darf sein – Venedig. Das kommt dabei heraus, wenn man ein Jahr lang beobachtet, wie Beobachtungen  gemacht werden …

1. Öffentlichkeit: überreizt

Öffentlichkeit steht am Anfang, weil im Zentrum des Medienhandels. Derzeit fiebert sie, ist dramatisch überhitzt.  Durch das Virus wurde die Infodemie in der gesellschaftlichen Kommunikation weiter angeregt. Das Ergebnis ist eine riesige Aufregung. Öffentlichkeit herzustellen, stellt die Beteiligten heute vor eine kaum lösbare Aufgabe: Freien Informationsfluss zulassen und gleichzeitig das (körperliche) Gemeinwohl sichern. Marc Brost und Bernhard Pörksen kommen in der Zeit zu einem bitteren Befund für den demokratischen Dialog: Worte wirken nicht mehr. Vor welchem Dilemma gesellschaftliche Kommunikation heute beim Thema Corona steht, beschreiben die Autoren so:

Es braucht die vorausschauende Emotionalisierung auf der Basis von Modellrechnungen und einem Verständnis exponentiellen Wachstums, dann den radikalen Wechsel: von der mathematischen Abstraktion zu einer Kommunikation, die Tote beweint, die noch leben. Die Brandrede muss gehalten werden, noch bevor irgendwer das Feuer sieht.

Tote beweinen, die noch leben, damit manche von ihnen vielleicht doch nicht sterben. Kompliziert? Oder eigentlich ganz einfach? Wissenschaftlichen Werten und moralischen Wertungen Geltung verschaffen, evidenzbasiert und staatstragend handeln. So lautet derzeit das Ziel der Verantwortlichen. Allerdings: Wissenschaft wie Politik streiten manchmal sogar um des Streitens Willen, weil es selten Fortschritt ohne Provokation oder Wagnis gibt. Absolute Sicherheit sowieso nicht Jetzt, wo es um Leben und Tod, auch um die Existenz ganzer Gesellschaftssysteme geht, wird die Umständlichkeit von Willensbildung jedoch zum Problem. Tatsächlich scheint es: Uns fehlen nicht nur die Worte, sondern auch die Werte. Jedenfalls die richtigen, um alle zu erreichen.

Können wir auf dem heutigen Krisen-Niveau (Corona, Klima, Flucht) die Verabredung zum Gemeinwohl überhaupt noch in menschlichen Händen und herkömmlichen Strukturen belassen? In einem Gedankenspiel beschreibt der Medienwissenschaftler Robert Simanowski im Deutschlandfunk eine utopische Alternative: Aus gutem Grund überlässt die Menschheit die Zukunft der künstlichen Intelligen, programmiert und befugt, um rationales, gutes Handeln durchzusetzen. Künftigt würde man über unser heutiges Versagen staunen:

Dokumente über eine Zeit, da die Menschen ihre Dinge noch selber regeln wollten und deswegen beinahe verpasst hätten, ihr Überleben zu sichern. Glücklicherweise erkannten sie rechtzeitig die entstandenen Gefahren und schufen sich eine Künstliche Intelligenz, um sie geschickt zu umfahren; nicht nur im Straßenverkehr, auch in der Weltgeschichte.

Zurück in die Gegenwart. Da ist der allzu menschliche Überlebenskampf noch in vollem Gange. Medial erleben wir das giftige symbolische Ringen um Sagbarkeit und Sichtbarkeit, wenn es etwa um „cancel culture“, geht. In den Farben der Saison: Schwarz und weiß, Nazi oder Gutmensch.

Medienkompetenz: am Limit

Gerade wurde er so selbstverständlich benutzt, der Begriff  „Öffentlichkeit“. Doch selbst wenn man ihn – wie meistens in diesem Blog – auf Massenmedien und politische Debatten zuspitzt, bleibt er frustrierend komplex. In der digital vernetzten Gesellschaft franst Öfffentlichkeit völlig aus. Soziale und alternative Medien schaffen ganz neue Formen medialer Auseinandersetzungen bis ins private Umfeld. Der berühmte Link auf ein Youtube-Video, das „die Mainstreammedien“ nicht bringen – wer kennt ihn nicht? Nicht nur dem Autor dieses Blogs wird es so gehen: Über eine missratene Hartaberfair-Sendung zu Corona kann man sich abstrakt ärgern. Aber der durch Verschwörungsmythen befeuerte Streit mit guten Freunden wirkt verstörend. Jedenfalls auf mich.

Die Autorin Ingrid Brodnig wird von ihrem Verlag als „Expertin für Lügengeschichten, Mobbing und Hass in unserer zunehmend digitalen Welt“ gehandelt. Tatsächlich hat sie einige kompetente und pragmatische Empfehlungen für den Umgang mit den Faktenfeinden unter den eigenen Bekannten bereit. Im Kern: ruhig bleiben, nicht die rationalen Positionen aufgeben und:

Schimpfwörter haben schnell eine sehr spaltende Wirkung in Debatten. Es ist immer wichtig, eine wertschätzende Ebene beizubehalten.

Was einfacher gesagt als getan ist. Übrigens auch im professionellen Journalismus. Für welchen Twitter ein wichtiges Medium der Selbstvergewisserung bis -stilisierung ist, das Kolleg/-innen gern mit Gags der Marke Heuteshow füllen. Das freut die Gleichgesinnten und reizt die Feinde.

Wandel: digitalradikal

Kaum irgendwo wird die Grundgereiztheit dieser Zeiten so deutlich wie beim Super-Symbolkonflikt um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. (Vorsicht: Der hier schreibt, ist tief öffentlich-rechtlich sozialisiert und hoch alimentiert!) Der aktuelle Kampf um die Beitragserhöhung dreht sich beileibe nicht nur ums Geld. Sondern um die große ganze Richtung des digitalen Medienwandels. Wobei die „GEZ“-Gegner aus dem Lügenpresseruferlager und digitaldemokratische Radikalreformer natürlich extrem unterschiedliche Agenden verfolgen. Einig scheinen sie sich aber darin, dass die Strukturen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, geboren als Umerziehungsauftrag angesichts eines ungezogenen Ex-Nazideutschlands, heute nicht mehr hinreichen. Den einen ist die staatstragende, eigenwillige Wächterfunktion des ÖR ein Dorn im Auge. Die anderen wünschen sich das viele Beitragsgeld für die eigene Arbeit, sei es die politische, sei es die geschäftliche. Gern wird dies kombiniert, das Gemeinwohl mit dem persönlichen Interesse identifiziert.

Pars pro toto steht ein sehr langer, aufschlussreicher Debattenbeitrag des Dokumentarfilmers Thorolf Lipp, Inhaber der Arcadia Filmproduktion sowie Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft  Dokumentarfilm (AG Dok). Unter dem Titel „docs for democracy“ fordert er zwei Prozent des Beitragsaufkommens – das entspräche etwa 160 Millionen – als separtes, gesichertes Budget für seine Sparte. Diese Aufträge solle aber nicht über die unbeweglichen Strukturen und unfähigen Readaktionen vergeben werden, so der Lobbyist:

Wenn die Demokratie den mündigen Bürger will, dann muss sie wohl auch an den mündigen Kreativen glauben! Nichts spricht dagegen, sondern alles dafür. Und deswegen ist die Idee von „Docs for Democracy“, mit zunächst 2% des Beitragsaufkommens Freiräume zu schaffen für eine neue, selbstverwaltete Methode des Umgangs mit den Ressourcen.

Ob diese Form der Demokratieabgabe kommt, sei dahingestellt. Klar scheint aber, dass öffentlich-rechtlicher Rundfunk spätestens seit diesem Radikalisierungsjahr vor starken Einschnitten stehen dürfte. Denn er schafft es nicht mehr länger, die gesellschaftliche Grundspannung auszugleichen.

Bei der Digitalisierung kommt das auf den Punkt. „Riding on two Horses“ hat Ex-BBC-Generaldirektor Tony Hall die öffentlich-rechtliche Übung einmal in einer berühmten Rede genannt, Altmedienwelt und digitale Gesellschaft zeitgleich zu bedienen. Nun droht dem alten Klepper die Schlachtbank. Wie dargestellt, hat das nicht nur mit technischer Modernisierung zu tun, aber der digitale Druck treibt den Wandel gnadenlos an.

Ein Geschäfftsmodell für Medien, das hehre Ziele und kommerzielle Notwendigkeiten vereint, ist immer noch nicht in Sicht. Also wird der Kampf um Rundfunk-Beiträge und staatliche Alimentierungen wie eine staatliche Presseförderung verbissener. Eine Front verläuft hier klassich zwischen öffentlich-rechtlichem Rundfunk und privater Presse. Beispiele wie der junge Ableger der Zeit, ze.tt , kennzeichnen die zweite Konfliktlinie: Modernisierung. Das Ende der innovativen Übungsfirmen wie ze.tt oder bento offenbaren dabei verlagsinterne Kämpfe zwischen Print- und Onlinefraktionen. Hinzu kommt schließlich: Auch externe, bislang selbstausbeuterische Angebote, wie die Krautreporter, fordern Förderung.

Generationen: ungeduldig

Die existenzielle Auseinandersetzung „Etablierte“ gegen „Digitale“ schreibt das ewige Ringen alt gegen jung fort, den Kampf der Generationen ums mediale Erbe. Dieses Rennen können die Alten nur verlieren, aus biologische und ideologischen Gründen. Wo es langgehen sollte, beschreibt Felix Dachsel, Chefredakteur von Vice, aus digitalnativer Sicht:

Junge Medien machen etwas, das älteren Medien noch immer sehr schwer fällt: Sie legen die Zukunft in die Hände jener, die in dieser Zukunft (noch sehr lange) leben und arbeiten werden. Sie geben jungen Menschen Verantwortung. Etablierte Medien tun sich noch immer schwer mit der friedlichen Übergabe von Macht.

Dann hilft wohl nur „Zerstörung“. Rezo hat es geschafft, die gediegene Polit- und Medienszene gehörig in Verlegenheit zu bringen. Unaufhaltsam dringt er in den Medien-Mainstream ein. Als Kolumnist, wurde auch ZEIT (Für meine Leser/-innen in Kalau).

Rezo steht für das Rollenmodell des coolen, woken Rechners mit Medienmacht. Denn er integriert zwei zentrale Bestandteile des künftigen Journalismus: Informatik und Engagement, mathematische und moralische Werte, Evidenz und Engagement. Sein Weg – und der der Branchen – führt auf Sicht weg vom geisteswissenschaftlich Grüblerischen, scheinbar Objektiven und hin zu Bit und Beat. Der Prozessor arbeitet und das Herz schlägt für die „richtigen Themen“.

Katalysator Corona dürfte wesentlich zum Durchbruch dieses Selbstverständnisses beitragen. Alle herkömmliche Krisenstrategie scheint zu schlapp, im Angesicht der drastischen Bedrohung durch das Virus. Nur streng rechnerische Modellierung und rigorose Gemeinwohlorientierung scheinen die richtige Wirkstoffkombination zu sein. Mathematisch wie Viola Priesemann und moralisch wie Greta Thunberg. Diese beiden role models verfügen über die Superkräfte der Stunde.

Journalismus: hyperaktiv

All das dürfte auf eine digitalistisch-aktivistische Wende im journalistischen Selbstbild hinauslaufen. Sehr nachvollziehbar beschreibt der Journalist und Publizist Maximilian Probst diese Position im Ressort „Wissen“ der Zeit.

Was heißt das für die professionellen Beobachter/-innen? „Journalismus ist kein Geschäftsmodell“ [Altmeppen, Klaus-Dieter (2014)] lautet ein viel zitiertes Bonmot der Kommunikationswissenschaften. Und 2020 hat weitere Beweise geliefert. Der Beruf bringt immer mehr Ärger, aber immer weniger Erträge. Es sei denn, man wird gefördert, etwa durch Rundfunkbeiträge, oder man arbeitet für die auserwählten Medien, genauer: die Medien der Auserwählten, nämlich zahlungskräftigen Nutzer/-innen. Nun eröffnet sich eine alternative Perspektive: Journalismus wird im digitalen Zeitalter zum Moralmodell. Objektiv in der technischen Methodik, aktivistisch im meritorischen Inhalt. Und kollektiv in der Finanzierung (s.o.).

Wo diese professionelle Debatte steht, lässt sich am elitären und einflussreichen Milieu der Absolvent/-innen der Deutschen Journalistenschule München (DJS) gut ermessen. (Hinweis: Der Autor diese Blogs forscht darüber.) In der Traditionslinie mahnt der pensionierte Journalistik-Professor Stephan Russ-Mohl die althergebrachten Standards öffentlich an, nehmen wir die Neutralitätsnorm: Alle Seiten hören und sagen, was ist. Mit ganz anderem spin bloggt eine frisch ausgebildete Journalistenschüler/-innen-Generation im Branchendienst Meedia. Unter dem Titel „OK Boomer“ konfrontieren die Azubis der 58. Lehrredaktion die Alten wütend mit ihre Werten wie konsequenter Diversität, die sie knackhart durchzusetzen gedenken, sobald sie an der Medienmacht sind. Diese konsequente Wertorientierung vertritt auch der ehemalige Spiegel-Kolumnisten und DJS-Absolventen Georg Diez, so etwa Generation X. Diez entwickelt gemeinsam mit dem IT-Unternehmer Emanuel Heisenberg einen medialen Handlungsnmodes unter dem Titel. Power to the people„:

Technologie ist eine Art, zu denken und zu handeln. Darin liegt das konstruktive Potential, eine andere Form von Demokratie und  Gesellschaft zu imaginieren und zu gestalten. Wie können Prozesse und Abläufe beschleunigt und transparenter, durchlässiger, partizipativer, gerechter gemacht werden? Wie können Regierung und Repräsentation anders gedacht werden? Wie sollten Märkte verändert werden, damit Eigentum und Besitz kein Hindernis mehr sind für das gute
Leben für möglichst viele? Das ist der Optimismus, von dem wir angetrieben sind.

Venedig: trotzig

Kommen wir zum Menschheitsmuseum und Weltzukunftslabor Venedig. Diese Traumstadt und Projektionsfläche steht ständig im Symbolfokus des Erdgeschehens. Auch das bisher beschriebene künftige Rollenmodell von Journalist-/innen lässt sich bestens venezianisch illustrieren. Hinzu kommt: Mögen die Herausforderungen auch noch so hart sein (Massentourismus, Flut oder Pandemie) – die Stadt bleibt eine Trotz-Burg. Ein Ort unkaputtbarer Hoffnung, dass Erfindungsreichtum und Entschlossenheit jedes Problem bewältigen. Es kann durchaus sein, dass Katalysator-Katastrophen wie Sturmfluten und Pandemien zum konstruktiven Wendepunkt werden. Speriamo bene.

Um zum Schluß noch mal auf den ersten Post 2020 in diesem Blog zurückzukommen, nämlich die Phrase „Alles gut!“ Sie funktioniert nicht ohne Fragezeichen. Denn als Beruhigung, dass alles irgendwie im Griff ist, hat sie absehbar ausgedient. Aber die Hoffnung bleibt. Auf ein neues!

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